Gelungenes Gedenken: Integratives Chorprojekt führt „Das Tagebuch“ auf

Gelungenes Gedenken: Integratives Chorprojekt führt „Das Tagebuch“ auf
Ein integratives Chorprojekt aus Menschen mit und ohne Behinderung führte „Das Tagebuch“ ein Singspiel zu Jochen Klepper in Mariaberg auf. (Bild: Mariaberg e.V.)

WOCHENBLATT

Im Jahr 1940 wurden 61 Menschen mit Behinderung von den Nationalsozialisten aus Mariaberg deportiert und in Grafeneck vergast. Zum Gedenken der Opfer der Euthanasie gibt es im diakonischen Unternehmen Mariaberg e.V. in Gammertingen alljährlich eine Gedenkveranstaltung.

In diesem Jahr gab es eine Gedenkveranstaltung der besonderen Art: Ein integratives Chorprojekt aus Menschen mit und ohne Behinderung führte das Singspiel „Das Tagebuch“ in der Mariaberger Mehrzweckhalle auf.

Vor Beginn der Aufführung sprach zunächst Mariabergs Vorstand Rüdiger Böhm ein mahnendes und bedrückendes Geleitwort: „Wir gedenken heute der Mariaberger Opfer der Euthanasie, die am 1. Oktober 1940 von Mariaberg nach Grafeneck in die Tötungsanstalt gebracht wurden und am selben Tag auf staatliche Anweisung umgebracht wurden. Wir gedenken mit Worten aus dem Schreiben des damaligen Direktor Erich Kraft „Mariabergs dunkelste Zeit 1939 – 1941“: Es kam der schwarze Tag, der 1. Oktober. Wir haben den 56 Verurteilten nichts von dem bevorstehenden Tod gesagt. Aus Menschenliebe. Sie waren so ahnungslos. Wie wenn es zu einem Ausflug ginge. Warum diejenigen die das Schreckliche verstehen würden, noch in Todesschrecken versetzen? Einzelne hatten doch Ahnung?“

Nach dieser Einführung durch Rüdiger Böhm begann das Singspiel. 35 Sänger standen in Mariaberg auf der Bühne. Das Projekt wurde von Chorleiterin Ulrike Göggel aus Gammertingen, Mariabergs Diakonin Renate Nottbrock sowie Pfarrerin Bärbel Danner ins Leben gerufen.

Es ist ein Projekt der Verbundkirchengemeinde und wird von der Aktion Mensch gefördert. Musikalisch begleitet wurde der Chor vom Mariaberger Blechbläser-Ensemble „Bläserei“ sowie den Solisten Barbara Ernst (Violine), Heike Rapp (Viola) und Manfred Ulmer (Klavier). Die szenischen Lesungen zwischen den Liedern übernahmen Regina Schaumann, Bärbel Danner, Roland Frank, Rosi Holder, Silvia Weeber und Sabrina Schneck.

In der vollbesetzten Halle konnten die Zuhörer ein bewegendes und bestens inszeniertes Singspiel erleben. Menschen mit und ohne Behinderung standen dabei gemeinsam auf der Bühne. Der gemischte Chor überzeugte mit sensiblem und höchst intensivem Gesang. Die begleitenden Musiker gaben ein sicheres und gelungenes Geleit. Die Lesungen der Tagebucheinträge und Dialoge waren feinfühlig und drückten große Emotionalität aus.

Das Singspiel wurde im Jahr 2017 zum 75. Todestag von Jochen Klepper von Pfarrer Reinhard Ellsel und Kantor Markus Nickel verfasst. Zu hören sind bekannte Klepper-Lieder im Wechsel mit Zitaten aus den Tagebüchern von Jochen Klepper. Klepper ist einer der wichtigsten evangelischen Lieddichter des 20. Jahrhunderts. Zwölf seiner Kirchenlieder sind im evangelischen Gesangbuch abgedruckt.

Jochen Klepper war mit einer Jüdin verheiratet. Im Jahr 1941 sollte das Paar zur Zwangsscheidung gezwungen werden, Kleppers Frau Hanni und seiner Stieftochter Renate droht die Deportation in ein Konzentrationslager. Weil die Familie keine Perspektive, keine Rettung sieht, begeht sie im Dezember 1942 gemeinsam Selbstmord. In Kleppers posthum veröffentlichten Tagebüchern kann eindrucksvoll und bedrückend die Leidensgeschichte der Familie miterlebt werden.

Die Aufführung in Mariaberg hat den Zuhörern das Leid und die Verzweiflung Jochen Kleppers sehr nahegebracht. Bewegend waren die Tagebucheinträge, die im direkten Wechsel mit Kleppers Kirchenliedern zu hören waren. Die Suche nach Trost und Rettung im Glauben war spürbar und erlebbar, fast so, als wäre die Familie Klepper mit im Saal. Die Unbarmherzigkeit des nationalsozialistischen Regimes war auch heute noch greifbar und erschreckend.

Das Singspiel „Das Tagebuch“ wird auch noch am 10. Dezember 2023, um 19 Uhr in der St.-Blasius-Kirche in Mägerkingen aufgeführt. Der Eintritt ist frei.

(Pressemitteilung: Mariaberg e.V.)