Alternative Strukturen im Gesundheitswesen

Einig waren sich Professor Dr. Jan-Marc Hodek (links) und Professor Dr. Maik H.-J. Winter in ihrer Diskussion über das Gesundheitssystem darin , dass die kommunale Pflege, die private Häuslichkeit und die zunehmende Diversität der Patienten zukünftig eine deutlich größere Rolle spielen werden.
Einig waren sich Professor Dr. Jan-Marc Hodek (links) und Professor Dr. Maik H.-J. Winter in ihrer Diskussion über das Gesundheitssystem darin , dass die kommunale Pflege, die private Häuslichkeit und die zunehmende Diversität der Patienten zukünftig eine deutlich größere Rolle spielen werden. (Bild: Christoph Oldenkotte, RWU)

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Über die Zukunft unseres Gesundheitssystems diskutierten an der RWU die Professoren Jan-Marc Hodek und Maik H.-J. Winter. „Krankenhäuser dürfen nur dann geschlossen werden, wenn paralleltragfähige Alternativen aufgebaut werden.“

Wie viele Krankenhäuser brauchen wir wirklich? Diese Frage stand im Mittelpunkt eines Streitgesprächs an der RWU. Und da diese Frage seit einiger Zeit auch die Region Bodensee-Oberschwaben beschäftigt, fanden sich vor Ort und online 200 Gäste zu der Diskussion ein.

Auf dem Podium standen sich zwei Professoren der RWU gegenüber: Jan-Marc Hodek, Leiter des Studiengangs Gesundheitsökonomie, und Maik H.-J. Winter, Leiter des Studiengangs Pflege sowie des Instituts für gerontologische Versorgungs- und Pflegeforschung. Gemäß ihrer Fachdisziplinen vertraten sie unterschiedliche Perspektiven auf die Zukunft des Gesundheitssektors, auf der einen Seite die Ökonomie auf der anderen die Versorgungsforschung.

Anhand von drei Thesen und drei Gegenthesen steckten die beiden ihre Standpunkte ab. Dabei diagnostizierte Hodek zunächst eine gewisse Schizophrenie im öffentlichen Diskurs. „Wir sind überzeugt von den Leistungen unseres Gesundheitssystems und lassen uns etwa aus Mallorca nach Hause fliegen, wenn wir krank sind. Gleichzeitig gibt es so viele Klagen über angebliche Missstände und Notstände. Wo stehen wir denn nun wirklich?“ „Auch defizitäre Angebote müssen aufrechterhalten werden.“ Um diesen Standort näher zu bestimmen zitierte Hodek die Statistik.

Die gesamte Schweiz verfüge über 104 Akutkrankenhäuser, während es allein in Baden-Württemberg 181 seien. Dabei liege die Lebenserwartung in der Schweiz knappdrei Jahre über der in Deutschland. Das Problem, so Hodek, sei nicht ein Zuwenig an Geld und Personal, schließlich unterhalte man in Deutschland nach den USA das zweitteuerste Gesundheitswesen der Welt. Das Problem sei der falsche Einsatz der verfügbaren Ressourcen. Maik H.-J. Winter entgegnete, die flächendeckende Gesundheitsversorgung sei im Grundgesetz verankert, auch defizitäre Angebote müssen aufrechterhalten werden. Das Problem, so Winter, liege vielmehr in den Schnittstellen zwischen den Sektoren. „Wir haben es in Deutschland verpasst, eine funktionierende ambulante Versorgung aufzubauen und leiden jetzt unter der Krankenhaus Lastigkeit.“ Hinzu komme die starke Ökonomisierung und Privatisierung, die im Gesundheitssektor viel stärker ausfalle als in anderen Bereichen der Daseinsversorgung wie etwa der Polizei oder den Schulen.

In der Konsequenz führe das – je nach Fall – zu Über-, Unter- oder Fehlversorgung beim Patienten. Bereits der erste Schlagabtausch zwischen den beiden Diskutanten verdeutlichte, dass sie zwar durch unterschiedliche Brillen auf den Patienten Gesundheitssystem schauen, dass die Schlüsse, die sie ziehen jedoch nicht allzu kontrovers ausfallen. Der durchschnittliche Däne hat einen weiteren Weg zum Krankenhaus, aber erlebt länger. So zitierte Jan-Marc Hodek unter der These Nummer zwei „Quantität ist nicht Qualität“ zunächst wieder Zahlenmaterial. Dänemark verfügt über 36Akutkrankenhäuser, während es in Niedersachsen 176 sind. 252 von 1.000Deutschen gehen mindestens einmal pro Jahr ins Krankenhaus. In Holland sind es nur 90. Und doch schneiden beide Nachbarländer bei der Lebenserwartung besser ab als Deutschland.

Der durchschnittliche Däne hat einen weiteren Weg zum Krankenhaus, lebt aber länger. Hodek spricht von einer angebotsinduzierten Nachfrage in Deutschland. „Wir überlasten die vielen Häuser mit zu leichten Fällen.“ Dadurch fehlten das Personal und die Expertise an zentralen Standorten. Aus diesem Grund, so Hodek, sei Zentralisierung kein Spar-Argument, sondern ein Argument der Qualitätssicherung.

Während Deutschland bei der Sterblichkeit nach Herzinfarkt noch im europäischen Mittelmaß rangiere, schneide man beiden Schlaganfällen deutlich besser ab, eben weil Stroke-Units zentralisiert wurden. Mit hohen Fallzahlen könne die Qualität gesteigert werden. Und entscheidend sei die Behandlungsqualität, nicht der Anfahrtsweg. Die Antwort von Maik H.-J. Winter lautet, und auch darin bestärkt er seinen Kollegen aus der Gesundheitsökonomie mehr, als dass er ihm widerspricht: „Die Zukunft liegt in der Überwindung der vorhandenen Strukturen. Es müssen sektorenübergreifende Angebote ausgebaut werden, die sich stärker an den Bedarfen der Patienten orientieren. Das System ist in erster Linie den Menschenverpflichtet und nicht sich selbst.“ „Der Wettbewerb hat gar nichts verbessert.“ So mündete die Diskussion auch in eine abschließende gemeinsame These: „Krankenhäuser dürfen nur dann geschlossen werden, wenn parallel tragfähige Alternativen aufgebaut werden“.

In dieser Neuordnung werde die kommunale Pflege, die private Häuslichkeit sowie die zunehmende Diversität der Patientenbei der Leistungserbringung eine deutlich größere Rolle spielen. Diese Gedanken wiederum entsprechen in weiten Teilen den Ideen, die in der Gesundheitspolitik diskutiert werden, Zentralisierung der Häuser bei gleichzeitigem Ausbau der ambulanten Strukturen bzw. von Primärversorgungszentren und Überwachungskliniken, die wiederum auch pflegerisch geleitet werden können. Um diese neuen Formate, Begrifflichkeiten und Zuständigkeiten ging es auch in der abschließenden Fragerunde. Als dann ein Gast seine Kritik an der zunehmenden Ökonomisierung äußerte, antwortete Jan-Marc Hodek, man sollte und könne die privaten Häuser ja nicht enteignen. Vielmehr belebe der Wettbewerb die Entwicklung.

An diesem Punkt widersprach Maik H.-J. Winter dann doch vehement: „Nein! Der Wettbewerb hat beispielsweise für Pflegebedürftige gar nichts verbessert. Das Hohelied vom Wettbewerb, der in jedem Fall dem Patienten nutzt, ist zu hinterfragen bzw. hat sich selbst absurdum geführt.“ So verdiente sich am Ende auch der Abend noch seinen Namen als „Streitgespräch“.

(Pressemitteilung: Hochschule Ravensburg-Weingarten/Christoph Oldenkotte)