Alle sprechen über die Migranten, die derzeit über die Grenze nach Deutschland kommen. Doch wer sind die Menschen, die hier Schutz suchen? Ein Gespräch mit Geflüchteten.
Am Flughafen Berlin-Tegel starteten einmal fast im Minutentakt Flugzeuge in alle Welt. Heute, drei Jahre nach seiner Schließung, hebt auf dem Gelände im Nordwesten der Hauptstadt kein Flieger mehr ab. Stattdessen kommen reihenweise Busse mit Schutzsuchenden an. Mit dabei sind Menschen aus der Ukraine, zuletzt auch wieder vermehrt aus der Türkei, aus Syrien und Afghanistan. In Tegel leben bereits mehr als 4000 Menschen.
Darunter ist auch Mansour, der mit seinem neunjährigen Sohn Abd aus Syrien geflohen ist und seit einem Monat im Ankunftszentrum ein Quartier gefunden hat. An einem kühlen Morgen Anfang Oktober sitzen sie auf einer der zahlreichen Bierbänke in der Aufenthaltshalle. Hier ist es zwar warm, aber sehr hellhörig. Der Song «Baby Shark», zu dem eine Handvoll Kinder in der Spielecke tanzt, ist in der gesamten Halle zu hören. Dreimal am Tag werden am hinteren Ende der Halle Mahlzeiten ausgegeben. «Es gibt nicht genug zu essen», beklagt der 34-Jährige. Sein Sohn werde nicht satt, selbst kochen dürften die Bewohner nicht. Wirklich aufgebracht wirkt Mansour aber nicht. Eher müde, erschöpft.
Während sein Vater spricht, schmiert sich Abd – frecher Blick, Deutschlandtrikot – Toast. Dafür legt er eine Scheibe Käse in einen Becher mit heißem Wasser, zieht den geschmolzenen Käse in langen Fäden nach oben und schmiert ihn auf sein Brot. Auf der Wange hat er eine Wunde, die er sich bei der Flucht durch ein Gebüsch in der Türkei zuzog, erklärt sein Vater. In Syrien hat der 34-Jährige als Heizungsbauer gearbeitet, das würde er auch in Deutschland gerne tun.
Nur vorübergehend – oder doch nicht?
Das Ankunftszentrum für schutzsuchende Migranten auf dem ehemaligen Hauptstadtflughafen gehört bundesweit wohl zu den größten. 14 Leichtbauhallen stehen dort – Massenunterkünfte, die eigentlich nur vorübergehend genutzt werden sollten. Manche Schutzsuchende hängen bereits seit einem Jahr in Tegel fest.
Die Ankommenden, die vor dem ehemaligen Terminal C aus den Bussen steigen, könnten zunächst wie gewöhnliche Flugreisende wirken. Sie versuchen sich zwischen Gepäck, Ordnern in bunten Warnwesten und Hinweisschildern zu orientieren. Anders als Touristen haben die Menschen auffallend wenig Gepäck bei sich, viele nur einen kleinen Rucksack, der vor der Flucht wohl mit dem nötigsten bepackt wurde. Ein Mann trägt ein Gemälde in einer blauen Plastiktüte mit sich. Die Ankommenden sehen müde aus. Drinnen sitzt in der Nähe von Mansour und seinem Sohn eine Ukrainerin im Rentenalter, die aus Angst namentlich nicht genannt werden möchte. Im Krieg habe sie alles verloren – den Sohn, das Haus, die Heimat.
Im Ankunftszentrum Tegel gehe es ihr schlecht, nachts kann sie nicht schlafen, die Kinder der anderen seien zu laut. In den acht fürs Schlafen vorgesehenen Hallen, die aussehen wie riesige weiße Zelte, teilen sich bis zu 15 Menschen ein Zimmer. Die Ukrainerin will ihr Leben wieder in der Hand haben. Arbeiten will sie, um Geld zu sparen, um in der Ukraine irgendwann wieder ein neues Haus für sich und den Ruhestand zu bauen. «Ich habe keine Angst zu arbeiten», sagt sie. Die Erfüllung dieses Traums scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Sie scheint verzweifelt aus Tegel wegzuwollen. Und dabei ist sie erst seit einer Woche dort.
Zu wenig Wohnraum in permanenten Unterkünften
Die Hallen sind für die Migranten vorgesehen, die in Berlin bleiben sollen und waren nur als vorübergehende Unterkünfte gedacht, sagt Monika Hebbinghaus, Sprecherin des Berliner Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). Doch wie an vielen anderen Orten in Deutschland gibt es auch in Berlin nicht genügend Wohnraum. «So wie es ist, hat sich das niemand gewünscht», gibt Hebbinghaus zu. Wegen der angespannten Lage in der Unterbringung könnten aktuell – abhängig von verfügbaren Plätzen – nur besonders vulnerable Personen in permanente Unterkünfte verlegt werden. Das seien etwa Hochschwangere, Menschen mit Behinderungen oder anderem Unterstützungsbedarf.
Zunächst kamen nach Tegel nur Ukrainer. Rund 3000 sind es derzeit. In Berlin kamen zuletzt aber wieder vermehrt Asylbewerber aus Ländern wie Syrien, der Türkei, Afghanistan, Georgien oder Moldau an – und werden seit etwa drei Wochen auch in Tegel untergebracht.
Bis Ende August haben dieses Jahr mehr als 204 000 Menschen in Deutschland einen Asylantrag gestellt, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mitteilte. Im Vergleich zu vergangenem Jahr ist das eine Steigerung um etwa 77 Prozent. Seit April steigt die Zahl der Antragsteller kontinuierlich. Zusätzlich hielten sich Mitte September mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine in Deutschland auf, die keinen Asylantrag stellen müssen. Die Menschen kommen, weil ihr Zuhause zerstört wurde, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen, weil ihr Leben in Gefahr ist oder weil sie sich eine bessere Zukunft erhoffen.
Hussein, Olja und Arina – drei von vielen
So zum Beispiel eine sechsköpfige Familie aus der Türkei, deren Haus durch das Erdbeben im Februar zerstört wurde. Oder Hussein, der sich als Kurde zu Hause in der Türkei wie ein «Mensch zweiter Klasse» gefühlt hat und nach Deutschland gekommen ist, um es nicht mehr zu sein. Der 28-jährige gelernte Maschinenbauer freut sich darüber, dass er in Berlin gelandet ist. Er zeigt den Daumen hoch – obwohl er schon seit etwa einem Monat in Tegel lebt, das Fleisch bei den ausgegebenen Mahlzeiten nicht halal ist und ihm Privatsphäre fehlt. Oder die 51-jährige Olja aus der Ukraine. Eine Frau mit Doktortitel, die erzählt, wie gerne sie eine eigene kleine Schüssel hätte, um ihre Wäsche darin per Hand waschen zu können.
Um mehr Platz zu schaffen, sollen bis Mitte Oktober zwei Leichtbauhallen, die für Sport vorgesehen sind, zu Unterkünften umfunktioniert werden. Zwei neue Sporthallen sollen errichtet werden und bis Ende des Jahres weitere 3000 Plätze entstehen. «Die gute Nachricht ist, dass die Menschen ein Dach über dem Kopf haben», sagt der Gründer des Vereins «Willkommen in Reinickendorf», Hinrich Westerkamp, der Geflüchtete unterstützt. Das allein reiche aber nicht.
Doch auch ohne festen Wohnsitz und Perspektive geht der Alltag manchmal einfach weiter. Die 15-jährige Arina aus der Ukraine hat gerade eine Englisch- und eine Chemieklausur hinter sich – online versteht sich. Die Teenagerin mit hellblonden Haaren und silbernen Ringen an den Fingern redet so schnell, dass sie zwischendurch immer wieder hastig Luft holen muss. Sie kommt aus Tokmak, einer Stadt in der Südukraine, die von Russland besetzt ist. Sie erzählt von einem Raketenangriff, den sie miterlebt hat. Dass die Fenster aus ihrem Zimmer rausgeflogen sind, habe sie nicht schockiert. Mit ihrem Wunsch, Juristin zu werden, ist sie nach Deutschland gekommen. «Hier ist für mich ein sicherer Ort», sagt sie. Dann muss sie schnell los, weiter für eine Astronomieklausur lernen.