Wenn die Notaufnahme zum Tatort wird

Wenn die Notaufnahme zum Tatort wird
Über 38 000 Besuche sind in der Notaufnahme des EK im Jahr 2018 verzeichnet worden - Tendenz stark steigend. (Bild: Oberschwabenklinik)

Ravenburg (le) – Die Gewaltbereitschaft von Patienten gegenüber Pflegepersonal und Ärzten hat zugenommen. Oft bleibt es nicht nur bei verbalen Entgleisungen, es kommt auch zu Übergriffen. Besonders betroffen sind Notaufnahmen. Hier hat sich das Anspruchsverhalten der Patienten stark verändert. Gesundheit wird zunehmend als Konsumgut gesehen, auf das jeder – ob Tag oder Nacht – Anspruch hat. Daher sollen Straftaten gegen das Personal in Notaufnahmen und im ärztlichen Notdienst künftig härter bestraft werden.

Dr. Kerstin Kunz, Chefärztin der Notaufnahme an der Oberschwabenklinik Ravensburg, hat dem WOCHENBLATT zu der steigenden Problematik ein Interview gegeben.

Neben Rettungsdienst und Feuerwehr ist die Notaufnahme ein weiterer Brennpunkt. Seit wann beobachten Sie hier ein vermehrtes Pöbeln und aggressives Fehlverhalten der Besucher?

Ich bin seit 2006 hier in der Notaufnahme. Ein auffälliges Verhalten seitens der Patienten gab es schon vor zehn Jahren, die letzten 5 Jahre hat die Aggressivität sukzessive zugenommen

Liegt es an den oft langen Wartezeiten, dem Personalmangel oder am Sinken der Hemmschwelle allgemein?

Das ist ganz unterschiedlich. Das Anspruchsdenken der Patienten ist nicht selten zu hoch. Einige sind der Ansicht, dass es in der Notaufnahme alles sofort aus einer Hand gibt: Behandlung, sämtliche Diagnostik, die passenden Medikamente, Verbandsmaterial, ein Rezept und am besten noch die Krankschreibung. Das Verständnis dafür, dass es in einer Notaufnahme, anders als in einer Arztpraxis unter Umständen zu längeren Wartezeiten zwischen Anmeldung und dem ersten Arztkontakt kommen kann, fehlt oftmals. In der Notaufnahme werden Patienten nach Art und Schwere der Erkrankung behandelt, nicht nach der Reihenfolge ihres Eintreffens. Auch bringt der Rettungsdienst Patienten, die ebenfalls behandelt werden müssen. In jeder Notaufnahme gibt es unterschiedliche „Spitzenzeiten“, hohes Patientenaufkommen und damit verbundene Wartezeiten sind nicht vorausplanbar.

Gibt es mehr Stress mit den Patienten oder sind es die Angehörigen?

Diskussionen gibt es häufiger mit den Angehörigen. Sie sind aus Sorge ungehalten und wollen natürlich, dass „ihr Patient“ die schnellste und bestmöglichste Behandlung bekommt. Schließlich ist man ja in der Notaufnahme. Das Personal der Notaufnahme hat Verständnis für diese Angst und bemüht sich auch, darauf einzugehen. Wir bitten jedoch um Verständnis für unsere Abläufe. Die Dringlichkeit der Behandlung wird durch die standardisierte Triagierung (Einschätzung nach Art und Schwere der Erkrankung) gut erfasst. Wenn Jemand als nicht ganz so dringend eingeschätzt wird, so ist eine mögliche Wartezeit medizinisch vertretbar.

Wird das Personal zum Thema „Streitschlichtung“ geschult und wie gehen Sie und Ihre Kollegen mit den Problemen um?

Das Thema „Deeskalation“ ist Inhalt der Notfallpflegeausbildung. Zudem gibt es für Pfleger und Ärzte hierzu Fortbildungen.

Wie sicher fühlen Sie sich bei Nacht an ihrem Arbeitsplatz und wie hat die OSK aufgerüstet?

In der Notaufnahme der Oberschwabenklinik Ravensburg gibt es schon seit circa 10 Jahren Security. Im Haus verteilt sind weitere Wachkräfte. Die Präsenz ist wichtig und wirkt oft deeskalierend. Wenn wir sehen, dass jemand eine aggressive Grundhaltung hat, fordern wir Unterstützung an. Die Polizei ist bei Bedarf ebenfalls sehr schnell vor Ort.

(Bild: pixabay)

Welche Probleme sind die Häufigsten?

Verbale Attacken stehen an erster Stelle, aber auch Schubsen, Schütteln und Drohen kommen vor.

Sind Sie selber auch schon beschimpft oder angegriffen worden?

Ich habe die ganze Palette hinter mir und wurde beleidigt, bedroht, bespuckt und sogar körperlich angegriffen. Sprüche wie „Ich weiß, wo dein Auto steht“ sind auch schon vorgekommen.

Kann man aggressives Verhalten auf bestimmte Gruppen in der Bevölkerung festmachen?

Nein, definitiv nicht. Alkoholisierte oder unter Drogen stehende Patienten fallen gerne durch Pöbeleien und Beleidigungen auf, aber auch hier betrifft das nicht alle. Fehlverhalten geht hingegen durch alle Altersklassen. Frech sind eher die Jungen, das Mittelalter wird verbal ausfälliger. Der dem Anschein nach gut situierte Patient oder Angehörige kann ebenfalls in Rage kommen.

Was könnte man in den Notaufnahmen ihrer Meinung nach verbessern oder ändern?

Hilfreich wäre, im Falle leichterer Erkrankungen, wenn möglich, erst den Hausarzt, dessen Vertretung oder den ärztlichen Bereitschaftsdienst bzw. die Notfallpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung in Anspruch zu nehmen. Auf der Homepage der Oberschwabenklinik unter „Notaufnahme“ steht auch nochmal nachzulesen, mit welchen Symptomen man dringend die Rettungsleitstelle kontaktieren sollte. In der Notaufnahme kann nicht alles sofort passieren und es kann nicht jeder der Erste sein. Ein respektvoller Umgang miteinander und eine Portion Geduld und Verständnis wären wünschenswert. Wir Ärzte, das Pflegepersonal und auch die Medizinischen Fachangestellten müssen auch mal auf die Toilette, einen Happen essen oder einen Schluck trinken. Was die Wartenden nicht sehen und was viel Zeit kostet sind auch der Datenschutz und das Einhalten von Vorschriften und Regeln.