Zentrales Anliegen der Lindauer Nobelpreisträgertagungen ist es seit 1951, den Dialog zwischen Nobelpreisträger*innen und den Nachwuchswissenschaftlern*innen aber auch der Gesellschaft zu fördern und zu intensivieren.
Mit großem Engagement und ebensolcher Leidenschaft und Begeisterung geben die Nobelpreisträger ihr Wissen und ihre Erfahrungen gerne an den wissbegierigen und ehrgeizigen wissenschaftlichen Nachwuchs aus aller Welt weiter. Noch im März erhalten viele der jungen Wissenschaftler*innen aus aller Welt, die für eine Teilnahme in Lindau nominiert wurden, Post aus Lindau.
Wochenblatt-Redakteur Wilfried Vögel stellt in diesem Beitrag die Tagung, ihre einmalige Geschichte und ihre weltweit einzigartige Bedeutung vor.
Deutschland aus der Isolation herausholen
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten zwei Lindauer Ärzte, Franz Karl Hein und Gustav Wilhelm Parade die geniale und zukunftsweisende Idee, Wissenschaftler und Nobelpreisträger aus ganz Europa in Lindau zusammenzubringen. Deutschland sollte damit aus der Isolation, die der Krieg zur Folge hatte, herausgeholt werden.
Graf Lennart Bernadotte als idealer Partner und Ideengeber
1951 fanden sie mit dem Hausherrn der Insel Mainau, Graf Lennart Bernadotte, einen idealen Partner, der die Idee sofort begeistert aufgriff.
Bernadotte war selbst Mitglied des schwedischen Königshauses. Sein Großvater, der spätere König Gustav V von Schweden, hatte 1901 die ersten Nobelpreise an die Laureaten überreicht. Eine ideale Partnerschaft entstand auf diese Weise.
Die erste Tagung in Lindau fand 1951 statt. Sieben Preisträger und 400 Wissenschaftler versammelten sich zur ersten „Europa-Tagung“. Der schwedische König, Gustav VI Adolf, sandte Grüße nach Lindau.
Unter den Gästen befanden sich in den Anfangsjahren auch Otto Hahn (Nobelpreis für Chemie 1945), Werner Heisenberg (Nobelpreis für Physik 1932) sowie Albert Schweitzer (Friedensnobelpreis 1953). Hahn und Schweitzer ist in Lindau jeweils eine Straße gewidmet.
Ein Maikäfer sorgte für Bewegung
Was hat ein Maikäfer mit der Nobelpreisträgertagung zu tun? Mancher spekulierte gar, das Tier sei im Lindauer Stadtwappen zu finden. Aber genug mit dieser Spekulation. Die Geschichte des Maikäfers und der Maikäfer-Rede hat einen ganz anderen Ursprung: Sie hat mit Graf Lennart Bernadotte zu tun, der Unbeholfenheit der Nobelpreisträger angesichts einer Fotografenmeute und einem netten Zufall.
Wie ein Maikäfer zum Maskottchen der Tagung wurde
Als sich nämlich am Ende der ersten Tagung im Jahr 1951 die Laureaten zum abschließenden Gruppenbild aufstellen sollten, standen die Herren ziemlich steif in einer Reihe. Die Fotografen wünschten sich mehr Lockerheit.
Da erblickte Graf Bernadotte einen am Boden liegenden Maikäfer. Er ergriff die Gelegenheit und das Insekt, reichte es dem verdutzten Adolf Butenandt und forderte diesen auf, eine Rede auf die “Unsterblichkeit des Maikäfers” zu halten. Butenandt (Chemienobelpreisträger 1939) war perplex, seine Kollegen lachten und die Fotografen hatten ihr Motiv im Kasten.
Beginn einer langen Tradition
Im folgenden Jahr, in der Vorahnung, dass Wissenschaftler nicht für Fototermine geboren sind, präparierte sich Graf Bernadotte mit einem Maikäfer aus Schokolade. Diesen brachte er zum Gruppenbild mit und hielt die erste Maikäfer-Rede. Das war der Beginn einer langen Tradition.
Jedes Jahr wurde aus dem Kreis der Preisträger ein Freiwilliger bestimmt, der eine kurze, humorvolle Rede auf den Maikäfer halten musste. Zur Erheiterung seiner Kollegen und der anderen Teilnehmer.
Nobelpreisträger mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs zusammenbringen
Schon bald hatte Graf Lennart die großartige Idee, Nobelpreisträger*innen und Nachwuchswissenschaftler*innen aus der ganzen Welt zusammenzubringen. Bernadotte wurde auch der erste Präsident des Kuratoriums für die Nobelpreisträgertagungen. Bis 1987 beeinflusste er alle folgenden Tagungen mit großem Engagement, mit immer neuen Ideen und mit immenser Tatkraft.
Ihm folgte 1987 seine Frau, Gräfin Sonja. Sie war es, die der Tagung eine noch größere internationale Bedeutung verlieh. Gemäß der Familientradition folgte ihre Tochter, Gräfin Bettina, als Präsidentin des Kuratoriums nach. Sie leitet das Kuratorium seit 2008.
Physik, Chemie und Physiologie/Medizin wechseln sich im Turnus ab –Wirtschaftswissenschaften zusätzlich seit 2004
Von Anfang an wechselte die Tagung zwischen den Disziplinen Physik, Chemie und Physiologie/Medizin. Seit 1959 entwickelte sich die Tagung zu einer hochkarätigen, weltweit beachteten, internationalen Konferenz. Darüber hinaus findet seit 2004 alle drei Jahre die Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften statt, die den Preisträgern des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften („Wirtschaftsnobelpreis“) gewidmet ist. Alle fünf Jahre trifft man sich in Lindau zu einer interdisziplinären Tagung aller drei naturwissenschaftlicher Disziplinen.
Umweltschutz spielt bei der Tagung eine wichtige Rolle
Bereits seit 1972 fand das Thema „Umweltschutz“ eine immer größere Bedeutung. Willy Brandt, Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger, hielt damals einen vielbeachteten Vortrag mit dem Titel „Umweltschutz als internationale Aufgabe“. Bereits ein Jahr zuvor hatte Graf Lennart den Umweltschutz als zentrales Thema in den Mittelpunkt einer Lindauer Tagung gestellt.
Weitere hochrangige Gäste aus der Politik wie die Bundespräsidenten Roman Herzog, Johannes Rau, Horst Köhler, Christian Wulff und Joachim Gauck, aber auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sind auf der Gästeliste der Lindauer Nobelpreisträgertagungen zu finden.
Enge Beziehung zum schwedischen Königshaus – Stiftung stellt die Tagung auf sichere finanzielle Beine
Immer breiteren Raum nahm im Lauf der Jahre die Verbindung zwischen der Lindauer Tagung und den Nobel-Komitees in Stockholm ein. Unabhängig davon besteht durch die gräfliche Familie Bernadotte eine enge Beziehung zum schwedischen Königshaus. So war Königin Silvia nicht nur anlässlich einer Tagung der Ökonomen auf der Insel Mainau, sondern auch einmal zu Besuch in der Geschäftsstelle des Kuratoriums in Lindau.
Im Jahr 2000 gründeten 50 Nobelpreisträger die Stiftung „Lindauer Nobelpreisträgertagungen“, um den Fortbestand der Lindauer Tagungen langfristig zu sichern. Die Grundlage für die finanzielle Basis zur Organisation der Tagungen sowie weitere die Entwicklung internationaler Beziehungen und Kooperationen weltweit war somit geschaffen.
Jede Zustiftung leistet einen unschätzbaren Beitrag zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Lindauer Tagungen. Das Vermögen wird sicher angelegt und allein die Erträge werden verwendet. Das Stiftungskapital bleibt dauerhaft erhalten.
Inzwischen haben sich mehr als 350 Nobelpreisträger*innen der Stifterversammlung angeschlossen und viele weitere Zustifter tragen zur soliden Zukunft bei.
„Mainauer Erklärung“ warnt vor Klimawandel
2015 unterzeichneten 76 Nobelpreisträger die weltweit vielbeachtete „Mainauer Erklärung“ zum Klimawandel. Darin warnten sie die Regierungschefs in aller Welt eindringlich vor den Folgen des Klimawandels. Die Tradition der Mainauer Deklaration geht auf 1955 zurück, als zunächst 18, später 34 Nobelpreisträger vor dem Einsatz von Atomwaffen warnten.
Verstärkten Nutzung der digitalen Medien durch Corona-Pandemie
Die weltweite Pandemie führte erstmals in der Geschichte der Lindauer Tagungen zu einer Verschiebung. Neben der Herausforderung lag darin für die Verantwortlichen auch die Chance, verstärkt neue interaktive Formate über das Internet zu nutzen. So gelang es, weltweit, auch in den Jahren 2020 und 2021 die globale Gemeinschaft von Wissenschaftlern*innen aus aller Welt, aus verschiedenen Kulturen, Generationen und Disziplinen zusammenzubringen. Der einhergehende Anstieg der Nutzung medialer Plattformen bietet der Wissenschaft heute unglaublich vielfältige Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten und auch zu bleiben.
Lindauer Alumni Netzwerk unterstützt wissenschaftliche Karrieren
Die Lindauer Tagungen schaffen zudem eine optimale Möglichkeit, über die Teilnahme an den Tagungen in Lindau hinaus, internationale Netzwerke zu schaffen.
Ehemalige Teilnehmer*innen, Alumni genannt, erhalten und nutzen auch nach ihrer einmaligen Teilnahme an der Nobelpreisträgertagung in Lindau die Möglichkeit, weiterhin weltweit Kontakte zu knüpfen, zu erhalten und sich gegenseitig zu inspirieren und weiterzubilden.
„Lindau Spirit“ bietet einzigartige Erinnerungen
Seit 1951 haben mehr als 35.000 Nachwuchswissenschaftler*innen an der Lindauer Nobelpreisträgertagungen teilgenommen. Rund 400 Laureaten haben die Lindauer Tagung seither besucht. Der legendäre „Spirit of Lindau“ schafft eine einmalige Erfahrung, die meist ein Leben lang anhält. Für viele Laureaten ist der Besuch in Lindau DAS Ereignis im Jahreskreis, für die jungen Wissenschaftler*innen ein unvergessliches Erlebnis, das ihr weiteres Leben prägt. Und mit Morten Meldal, dem letztjährigen Chemie-Nobelpreisträger von 2022 aus Dänemark gibt es nach Bert Sakmann nun schon den zweiten Lindau Alumnus, dessen bahnbrechende Wissenschaftsleistung mit einem Nobelpreis ausgezeichnet wurde.
Physiologen und Mediziner treffen sich Ende Juni 2023 in Lindau
Vom 25. bis 30. Juni 2023 findet die 72. Lindauer Nobelpreisträgertagung statt. Sie ist der Physiologie/Medizin gewidmet.
Wie die rund 600 Nachwuchswissenschaftler*innen ausgewählt werden, wie die Arbeit im Tagungsbüro stattfindet, wie die Laureaten eingeladen werden, wie die Tagungen ablaufen und welche Möglichkeiten es gibt, als Schule und auch als Laie von den Tagungen zu profitieren, lesen Sie demnächst hier bei www.wochenblatt.de.
Weitere Infos unter www.lindau-nobel.org