Letzte Woche haben wir die Bundestagskandidaten Anja Reinalter (Bündnis 90/Die Grünen), Martin Gerster (SPD) und Wolfgang Dahler (CDU) zur Gesundheitsversorgung befragt. Dies führte zu einem Kontakt mit der Kinderärztin Dr. Angela Foldenauer (Stellv. Obfrau der Kinder- und Jugendärzte im Landkreis Biberach).
Wir fragten Sie gezielt nach der aktuellen Versorgungssituation von Säuglingen und Kleinkindern im Landkreis.
Frau Foldenauer, in der Landesschau wurde letzte Woche berichtet, dass der Landkreis Biberach den höchsten Bedarf an Kinderärzten hat. Warum ist ausgerechnet der reiche Landkreis Biberach Schlusslicht bei der Versorgung mit Kinderärzten?
Das hat mit Reichtum nichts zu tun. Wir haben und hatten nie eine Kinderklinik wie in Ulm oder Ravensburg. Viele Assistenzärzte bleiben nach der Facharztausbildung gerne an dem Ort der Klinik, das spiegelt sich im Versorgungsgrad z.B. von Ulm, Ravensburg oder den Unistädten wider.
Nach Biberach kommen diejenigen „zurück“, die familiären Bindungen haben, eher selten Fachärzte, die bisher Biberach nicht kannten. Solange alle Land- und Stadtkreise Kinder- und Jugendärzte suchen, fällt der ländliche Raum hinten runter. Zwei meiner Praxiskollegen wohnen weiterhin in Ravensburg und pendeln nach Biberach.
Was müsste die Politik und die KV in die Wege leiten, um mehr Kinder-Ärzte für den ländlichen Raum zu gewinnen?
Die KV Baden-Württemberg hat schon das Programm „The Ländarzt“ aufgelegt, seit 2021 werden jährlich 75 Medizinstudienplätze an Bewerber vergeben, die eben kein 1,0 Abitur haben, sondern z.B. eine Berufsausbildung wie Krankenschwester oder Notfallsanitäter haben. Diese verpflichten sich, nach ihrer Facharztausbildung als Allgemeinarzt, hausärztlicher Internist oder eben Kinder- und Jugendarzt niederzulassen. Bis diese ersten Absolventen kommen, dauert es aber noch.
Die unterversorgten Landkreise werden zudem finanziell unterstützt mit dem Programm der KV (Kassenärztliche Vereinigung) „Ziel und Zukunft“, für die Anstellung oder den Einstieg eines Kollegen in eine bestehende Praxis für die alleinige Niederlassung. Außerdem gibt es Geld für Weiterbildungsassistenten. In unserem Landkreis wird im April ein Forum zur kinderärztlichen Versorgung stattfinden, organisiert durch die Sicherstellungskoordinatorin der KV. Da werden Vertreter der Hausärzte, des Gesundheitsamtes und wir Kinderärzte teilnehmen.
Was könnte die Politik machen?
Die Politik hat uns damit entlastet, dass Krankschreibungen für Kinder (sogenannte Kinder-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen) ohne Vorstellungstermin in den Praxen ausgestellt werden, wenn sich Eltern zutrauen, mit ihrem kranken Kind zu Hause zu bleiben. ABER:
Durch die Politik wird immer noch suggeriert, alles ist möglich, alles ist bezahlbar, die Ärzte sollen mehr arbeiten, das stimmt schon lange nicht mehr, das ganze System müsste umgestellt werden.
- Beteiligung der Patienten an den Kosten, die sie durch unnötige Inanspruchnahme verursachen, so wie es in anderen Ländern der Fall ist.
- Überprüfung der zusätzlichen Leistungen der Krankenkassen (Stichwort Bonusprogramme, siehe z.B. Homepage der DAK, da wird für jede Vorsorgeuntersuchung des Kindes 50 € Bonus bezahlt, der Arzt bekommt 49,70 € vor Betriebskosten und Steuer)
- Bezahlt wird das, was medizinisch notwendig ist, Selektivverträge beenden
- Anzahl der Krankenkassen (KK) reduzieren, versicherungsfremde Leistung der KK überprüfen
- Mehr Ressourcen in Sprachförderung/Elternarbeit/Elternführerschein/Integration (siehe z.B. Landsberger Eltern ABC
Alle anderen angrenzenden Länder in Europa haben dies schon gemacht, das Gesundheitssystem in Deutschland wird so weiter nicht mehr finanzierbar sein, die nächsten Generationen von Ärzten, wird das, was wir tun, und uns in diesem System gefallen lassen müssen, nicht mehr mit sich machen lassen und das ist auch richtig so.
Deswegen werden Hausärzte und wir keine Nachfolger finden.
Haben die niedergelassenen Kinderärzte im Landkreis eine reelle Chance, Kinderärzte für den Einstieg in die vorhandenen Praxen zu gewinnen?
Wir versuchen auf Kongressen und Fortbildungen junge Kollegen anzusprechen, wir haben alle Chefärzte der Kinderkliniken im süddeutschen Raum angeschrieben und unsere Praxis vorgestellt, das machen wir seit Jahren, durch Corona wurde die leider etwas ausgebremst, da Online-Fortbildungen zugenommen haben. Chancen gibt es immer, die Praxen sind gut und modern ausgestattet, verfügen über gute Standorte und werden von erfahrenen, breit aufgestellten Kollegen geführt. Das sollte eigentlich ein Anreiz sein, uns eine Chance zu geben. Aber… (siehe Antwort oben).
Welche Anstrengungen haben die niedergelassenen Kinderärzte im Kreis BC schon ergriffen, um die Versorgung durch Gewinnung von Kollegen zu verbessern?
Wir haben sowohl mit der Kinderklinik Ravensburg als auch mit der Kinderklinik Ulm einen Kooperationsvertrag. Assistenzärzte sollen im Rahmen ihrer Weiterbildung zu uns in die Praxen kommen, mit der Chance, dass sie eventuell bleiben.
Falls Dr. Olischläger noch praktiziert: Ist es nicht ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass eine so betagte Ärztin immer noch tätig sein muss, damit die ärztliche Versorgung von Kindern im Landkreis einigermaßen sichergestellt ist?
Das letzte, was einem als Beschreibung einfällt, wenn man Fr. Dr. Olischläger kennen lernt, ist das Wort „betagt“. Sie praktiziert nicht mehr, berät aber das Gesundheitsamt, hilft immer noch in der Versorgung der Flüchtlingskinder, und macht das Ganze auch immer noch engagiert, freiwillig und gerne.
Durch die fehlenden Ärzte sind die bestehenden Praxen sicher randvoll. Wie kann diese Belastung vom Personal und der Ärzteschaft auf Dauer bewältigt werden?
Wir haben einen Versorgungsauftrag, den wir leisten müssen, wir haben im Minimum 52 Stunden in der Woche geöffnet, da ist aber die Zeit für Telefonate, Befundbesprechungen, Arztbriefe, Gutachten usw. noch nicht eingerechnet. Unsere MFAs (Medizinische Fachangestellte) sind hervorragend, engagiert und kompetent, sie leisten Unglaubliches. Wir haben meist verständnisvolle Eltern, aber wir sind oft am Limit, besonders montags, da wir am Wochenende keinen kinderärztlichen Notdienst mehr im Landkreis haben, das merken wir. Die Belastung ist, wenn ich das mit früher vergleiche, immens, und wir können schon lange nicht mehr alle Wünsche erfüllen. Das belastet.
Gibt es einen Aufnahmestopp in den Praxen?
Nein, bisher hatte keine Praxis Aufnahmestopp, allerdings gibt es in unserer Praxis einen Aufnahmestopp für Wechselpatienten und für ältere, zugezogenen Kinder, die auch vom Hausarzt versorgt werden könnten. Außerdem keine Patienten außerhalb des Landkreises, unsere Praxis nimmt keine Neupatienten aus dem Einzugsgebiet Laupheim und Ochsenhausen mehr auf. Momentan habe Praxen große Personalprobleme, Sprechzeiten müssen reduzierte werden, das versuchen wir mit anderen kollegial für die nächste Zeit aufzufangen. Wenn wir nicht manche Familienpraxen mit Hausärzten hätten, die Säuglinge und Kleinkinder versorgen, sähen wir kein Land mehr.
Oft wird darüber geredet, dass sich die Ärzte zu viel Augenmerk auf Privatpatienten lenken und deshalb zu wenig Zeit für Kassenpatienten bleibe. Stimmt das?
Nein, das ist bei uns kein Thema. Pädiatrie (Kinderheilkunde) ist eine „sprechende Medizin“, die GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte) ist von 1996, d.h. für die Leistung gibt es heute genauso viel Geld, wie 1996, z.B. für eine Beratung 10,72 Euro, für eine Impfung die gleiche Summe (eine Katze zu impfen kostet deutlich mehr!). Da bekommen wir z.T. mehr von den Gesetzlichen Krankenkassen. Bei uns gilt der Grundsatz, krank oder medizinisches Problem dann gibt es einen Termin, egal wie versichert, da wartet auch der Privatpatient mal drei Monate auf einen nicht dringlichen Termin.
In welchen Regionen des Kreises wäre es sinnvoll, dass sich Kinderärzte niederlassen, damit die Eltern nicht zu große Wege auf sich nehmen müssen?
In Riedlingen, Bad Schussenried und den Federseegemeinden.
Wie könnten Sie nachhaltig in den Praxen entlastet werden?
Durch das fehlende Personal zur Förderung in den Kindergärten, die fehlenden Kapazitäten in den Frühförderstellen, der Psychotherapie und bei den Beratungslehrern der Schulen, den schulpsychologischen Beratungsstellen, sind wir immer mehr die erste Anlaufstelle für Eltern, Kindergärten und Schulen. Wir übernehmen immer mehr pädagogische Aufgaben, Erziehungsberatung, Entwicklung von Förderkonzepten etc.
Unsere Fachärzte haben aufgrund der weggefallenen Neupatientenregelung ein gedeckeltes Budget, das führt zu langen Wartezeiten bei Routineterminen bei HNO, Dermatologie, Augenärzte, Orthopäden und weitere. Auch da wird zunehmend der Erstkontakt zu unserer Aufgabe, gefolgt von einem zeitintensiven Arbeitsaufwand, um dann doch schneller Termine für notwendig Untersuchungen zu bekommen. Da gäbe es deutliche Entlastungsmöglichkeiten. Jetzt ist die Budgetierung für die Hausärzte gefallen, bei den Fachärzten bleibt sie aber bestehen, und warum sollen Untersuchungen kostenfrei erbracht werden? Das gibt es in keinem anderen Beruf.
Die ersten 20 Autoreparaturen werden der Werkstätte bezahlt, die nächsten 10 nicht, weil sie schon zu viele Autos diesen Monat repariert haben? Und wenn man trotzdem die 10 Autos mehr repariert, wird man dafür noch bestraft (Regress). Da ist es mehr als verständlich, dass bei den Fachärzten Privatpatienten mit einer Gebührenordnung von 1996 (!) noch einen Termin bekommen, weil dieser wenigstens noch bezahlt wird (zu einem Preis, der vor 28 Jahren mal festgesetzt wurde).
Wir haben im Landkreis einzigartige Strukturen, um die uns andere Landkreise beneiden mit den Frühförderstellen, der Sprachheilschule, dem KBZO, der Caritas, den Frühen Hilfen des Gesundheitsamtes, und dem dortigen schulärztlichen Dienst. Wir leben von dem Austausch und der Zusammenarbeit mit unseren Kollegen und denen der anderen Fachgruppen, das ist kollegial und kaum mehr zu verbessern. Aber wir werden alle überrannt, und das leider auch von Bagatellen, die keinerlei ärztlicher Intervention bedürfen.
Die Elterngeneration wird immer unsicherer, die Einflüsse von außen größer, der Beratungsbedarf für die Diversität des Normalen wird größer (übersetzt: die Kinder sind völlig normal entwickelt).