Zwischen Anfang 2020 und Frühjahr 2023 hatte die Corona-Pandemie die Welt in ihrem Griff. Auch wenn viele diese Zeit gern vergessen möchten, so war sie in vielerlei Hinsicht eine Zäsur, mit bis heute nachwirkenden Folgen.
1.191 Tage – vom 30. Januar 2020 bis zum 5. Mai 2023 dauerte die Pandemie. Wenigstens offiziell, denn in diesem Zeitraum hatte der Ausbruch den WHO-Status einer „gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite“. Real verschwand die Pandemie schon früher allmählich aus Alltag und Köpfen – speziell, da im Jahresverlauf 2022 bereits viele Maßnahmen zurückgenommen wurden.
Für die meisten Menschen auf dem Planeten war diese Phase der wohl tiefgreifendste Einschnitt in ihrem Leben; zumindest, wenn man es global betrachtet. Denn solche Verwerfungen und Todeszahlen sowie grenzüberschreitende Herausforderungen hatte man zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) nicht mehr gesehen.
Obwohl nach dem Auslaufen der Maßnahmen bei vielen bereits ein Vergessens-Prozess startete (eine normale Funktion des Gehirns), so hat die Pandemie als global-gesellschaftliche Zäsur dennoch tiefgreifende Eindrücke hinterlassen. Vielfach jedoch weitgehend unbemerkt.
1. Verstärktes Infektionsbewusstsein
Die omnipräsenten Masken der Pandemiezeit mögen weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden sein. Doch schon hierbei sehen Aufmerksame einen Unterschied: Nach wie vor gibt es viele Menschen, die sich beispielsweise bei einer eigenen Erkrankung oder im Zusammenhang mit Erkältungswellen wieder „maskieren“ – ohne dass daran jemand Anstoß nähme.
Das ist vor allem für Deutschland und andere westliche Staaten bemerkenswert. Ungleich zu Japan und anderen ostasiatischen Nationen spielten Alltagsmasken vor der Pandemie hier kaum eine Rolle. Nicht zuletzt Mediziner freut das, erstreckt sich der Schutz doch beileibe nicht nur auf das Corona-Virus.
Allerdings sind Masken nicht das einzige bleibende Resultat der Pandemie. Generell lässt sich ein verstärktes breitgesellschaftliches Infektionsbewusstsein betrachten.
- Händewaschen,
- Husten und Niesen in die Armbeuge,
- Verzicht auf zu engen Körperkontakt bei Infektionen
und Ähnliches sind für viele Personen Normalität geworden. Nicht zuletzt schlägt sich das in Regularien nieder. So wurde kürzlich die EN ISO 7010 erweitert – eine Norm für Sicherheitszeichen, insbesondere am Arbeitsplatz. Die Erweiterung umfasst fünf neue Zeichen; ganze drei davon haben mit Desinfektion zu tun. Namentlich Gebotsschilder, die zum Desinfizieren von Händen und Flächen mahnen, sowie eines, das zusätzlich mit Text dazu mahnt, die Handdesinfektion nicht zu vergessen.
Tatsächlich dürfte das erhöhte Infektionsbewusstsein eine der positivsten Pandemie-Auswirkungen sein, da der breitgesellschaftlichen Gesundheit maximal zuträglich. Von anderen Auswirkungen kann man das nicht behaupten. So etwa diese:
2. Reduzierte physische und psychische Kinder- und Jugendgesundheit
Es gab nur wenige Bevölkerungsgruppen, die von den Einschränkungen so sehr getroffen wurden wie diejenigen, die damals Kita oder Schule besuchten. Hauptsächlich liegt das daran, dass diese Maßnahmen inmitten wichtiger kindlicher Entwicklungsprozesse stattfanden.
Die Folgen sind regelrecht verheerend. Durch die Bank weg leiden heute Kinder und Jugendliche unter einer verminderten psychischen Gesundheit. Das betrifft insbesondere das allgemeine Wohlbefinden sowie die Häufung von Depressions- und Angstsymptomen sowie damit verbundenen Auswirkungen.
Ebenfalls verschärften die Maßnahmen den schon zuvor bestehenden Bewegungsmangel. Die heutige Jugend bewegt sich durchschnittlich etwa eine Dreiviertelstunde täglich weniger als vor Pandemiebeginn.
Wohl sah es während Corona noch schlechter aus. Auffällig ist jedoch, wie verhältnismäßig wenig sich die Zahlen wieder erholten. Übrigens lassen sich ähnliche Effekte bei Eltern, und insbesondere Müttern, betrachten, die durch Schulschließungen und Ähnliches über viele Monate hinweg eine riesige Zusatzverantwortung zu bewältigen hatten.
3. Verändertes Einkaufsverhalten
Das vielerorts bei Pandemiebeginn ausverkaufte Toilettenpapier mag mittlerweile eine humorig gehandhabte Erinnerung an die chaotischen ersten Wochen sein. Allerdings scheint dieses Erlebnis deutlich tiefer zu wirken, als viele glauben. Ganz generell hat sich unser Einkaufs- bzw. Konsumverhalten beträchtlich verändert. Insbesondere bei den folgenden Punkten:
- Der ganz große Boom des Online-Handels schwächte sich zwar wieder etwas ab. In vielen Ländern wurden trotzdem dauerhaft vorherige „Bastionen“ des Offline-Einzelhandels eingenommen. So stieg etwa in Deutschland erheblich die Bereitschaft, Lebensmittel und Medikamente online zu beziehen.
- In ähnlicher Form betreiben viele seitdem eine (etwas) verstärkte Vorratshaltung. Besonders bei sehr lange lagerfähigen Dingen des täglichen Bedarfs – definitiv nicht nur Toilettenpapier.
- Der sowieso schon angeschlagene innerstädtische Einzelhandel erlebte einen weiteren Rückgang. Profierten konnten hiervon vorstädtische, dezentrale Einkaufsmöglichkeiten.
Letzteres ist zudem ein interessanter Doppel-Effekt. Denn der Grund dafür, dass mehr Menschen eher „wohnortnah“ shoppen gehen, wenn sie nicht sowieso online bestellen, ist direkt mit einer weiteren bleibenden Auswirkung der Pandemie verbunden:
4. Flexibilisierung der Arbeitswelt
Insbesondere im Jahresverlauf 2024 waren die Medien voller Meldungen und vieler empörter Kommentare. Grund dafür waren Ankündigungen prominenter CEOs und allgemein Konzerne, Homeoffice einzuschränken, teils sogar völlig zu beenden. So etwa bei Deutschlands Software-Gigant SAP oder beim hamburgischen Online-Handels-Urgestein Otto.
Wer allerdings glaubt, hierdurch ließe sich auf eine große Trendwende zurück zu prä-pandemischen Zeiten schließen, der irrt. In der Breite ist die während der Pandemie eingetretene Flexibilisierung des Arbeitens gekommen, um zu bleiben.
Mit anderen Worten: Auf jede Firma, die unter großem Protest ankündigt, die Freiheit zu Homeoffice oder Workation zu reduzieren, kommen viele andere Unternehmen, die das Prinzip in aller Stille beibehalten oder sogar noch ausweiten. Der Grund dafür sind einige unerschütterliche Realitäten:
- Viele Firmen investierten viel Geld und Aufwand, um flexibles Arbeiten zu ermöglichen. Ebenso änderten sie zahlreiche Prozesse.
- In den meisten Häusern überwiegen die verschiedenen Vorteile derartiger Arbeitsmodelle gegenüber den Nachteilen.
- Nur mit flexibler Arbeit lässt sich bei der Personalfindung die Standortfrage völlig ausklammern.
- Sehr viele Fachkräfte machen die Möglichkeit von flexiblem Arbeiten zur Grundbedingung einer Bewerbung.
- Viele Firmen haben sich längst räumlich reduziert, besitzen also gar nicht mehr den Platz, um die Belegschaft wieder stärker inhouse arbeiten zu lassen.
Ähnlich wie beim etwas abgeschwächten Online-Shopping-Boom gilt daher: Arbeit abseits des Unternehmens hat sich zu einer festen Tatsache entwickelt, die definitiv nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Firmen, die es anders sehen, sind daher eher als jene Ausnahmen zu sehen, welche die Regel bestätigen.
Dazu noch eine Zahl: Laut einer ifo-Konjunkturumfrage vom Sommer 2024 planen gerade einmal vier Prozent aller deutschen Unternehmen eine Abschaffung von Heimarbeit und nur zwölf Prozent strengere Vorgaben.
5. Erosion der Debattenkultur
Die Pandemie war eine Extremsituation. Dementsprechend sorgte sie nahezu zwangsläufig dafür, dass in vielen Staaten eine Mehrheit der Bevölkerung ähnlich extreme Positionen einnahmen – mit tiefen, vielfach unüberbrückbaren Gräben dazwischen.
In Deutschland war das besonders gut zu beobachten. Insbesondere, weil sich hier eine Multikrisenlage etablierte – Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation, Rezession und noch einiges mehr. In der Folge erlebte die hiesige Debattenkultur einen nachhaltigen Wandel zum Negativen.
Zentraler Kern: Verstärktes Beharren auf eigenen Standpunkten bei gleichzeitig reduziertem Willen, die Ansichten Andersdenkender zu akzeptieren. Denken wir dazu etwa an die Heftigkeit der Meinungsunterschiede zum Thema Masken und Impfen.
Beobachten lässt sich das insbesondere bei der Hitzigkeit und Emotionalität von Debatten – beinahe egal zu welchem Thema. Anders gesprochen: Wir neigen seit Corona dazu,
- uns rascher getriggert zu fühlen,
- emotional aufgeladener zu debattieren und
- weniger von unseren Standpunkten abzuweichen.
Für viele Experten zieht das sogar Kreise bis hin zum Erstarken von Parteien an den Rändern des politischen Spektrums – wobei hier die Pandemie jedoch nicht die einzige Ursache ist.
Ob sich die Debattenkultur wieder normalisieren lässt, ist fraglich. Allein schon, weil es keine Aussichten darauf gibt, dass wir den angesprochenen Multikrisenmodus in absehbarer Zeit verlassen werden.
6. Reduziertes Staats-Vertrauen
Deutschland gehört zu denjenigen Ländern, in denen „der Staat“ vor der Pandemie ein recht hohes Vertrauen bei weiten Teilen der Bevölkerung genoss. Konkret darin, wichtige Herausforderungen lösen zu können.
Dieses Vertrauen wurde während der Pandemie empfindlich beschädigt und reduzierte sich Jahr für Jahr – ohne dass seitdem wieder eine Besserung zu beobachten wäre. Im Gegenteil, das zeigt die regelmäßig durchgeführte, repräsentative Bürgerbefragung des Deutschen Beamtenbundes (dbb). Dazu Zahlen aus der 2024er Studie:
- 70 Prozent der Deutschen halten den Staat für überfordert. 2020 waren es lediglich 40 Prozent. Besonders bedenklich: Selbst Anhänger von SPD und Grünen sind zu 54, respektive 50 Prozent dieser Meinung, obwohl beide Parteien seit Ende 2021 die Bundesregierung stellen.
- Nur 25 Prozent der Deutschen glauben noch, der Staat sei seinen Aufgaben gewachsen.
- Politiker gehören zu den Berufsgruppen mit dem geringsten Ansehen in der Bevölkerung. Lediglich 14 Prozent der Befragten haben ein positives Bild des Berufs. Noch weniger Zustimmung gibt es lediglich für Mitarbeiter von Telefongesellschaften, Werbeagenturen sowie Versicherungsvertreter.
Besonders kritisch ist der erstgenannte Wert. Denn er ist gemittelt aus Anhängern aller Parteien, Ost- und Westdeutschen sowie weiteren Faktoren. Wenn 70 Prozent einer repräsentativen Gruppe dem Staat bei vielen als wichtig empfundenen Dingen keine Lösungskompetenz zutrauen, sind die Risiken für die Demokratie offensichtlich.