Ein Wechselbad der Gefühle für die Fans des neuen Europameisters

Ein Wechselbad der Gefühle für die Fans des neuen Europameisters
Müssen mit ihrer Mannschaft durch ein Wechselbad der Gefühle: Leonardo und Nico Di Leo (von links). (Bild: tmy)

Friedrichshafen (tmy) – Als am Montag um kurz nach Mitternacht Raketen den Häfler Ortsteil Schnetzenhausen erleuchten, ist ein Großteil der Gäste im „Old Pub – Irish Style“ bereits gegangen. Aber nicht etwa nach Hause, sondern in die Häfler Innenstadt, um sich in den Autokorso einzureihen. Der Grund: Italien ist neuer Europameister. Eine Reportage.

Dabei beginnt dieser Sonntagabend bei herrlichem Sonnenschein mit einem kleinen Schock: Als sich Nico und Leonardo Di Leo gerade erst einen Platz vor einem der Fernseher in ihrer Stammkneipe gesucht haben, klingelt es auch schon – allerdings auf der aus Sicht der Cousins und ihren Freund / innen falschen Seite. Kopfschüttelnd, schimpfend und mit den Händen im Gesicht wird es hingenommen, dieses frühe 1:0 für die Engländer durch Luke Shaw.

Und das bereits in Minute zwei, als man sich noch siegessicher zuprostet. Die folgenden Minuten gleichen einem Hoffen und Bangen, einem Auf und Ab – quer durch den Gastraum und mit der Fahne um die Schultern. Mit Händen und Füßen spielen Nico und Leonardo mit, während sich Kumpel Andy den einen oder „England“-Ruf nicht verkneift. Das, ja das finden die Fans der „Squadra Azzurra“ nicht komisch – in etwa so wie Kroos die Kritik von Hoeneß.

Die weitaufgerissenen Augen und das eine oder andere Abwinken machen die Anspannung spürbar, während auf der anderen Seite der Theke deutlich mehr Lockerheit herrscht und viel mehr gelacht wird, als in der „italienischen Fankurve“, in der sich ob des 0:1-Halbzeitrückstandes nicht wirklich Zuversicht breit macht. Dabei hat Federico Chiesa den Ausgleich auf den Schlappen – doch sein Versuch streicht nur knapp am Pfosten vorbei (35.).

Als sich in der Pause angeregt darüber unterhalten wird, was nun taktisch und personell zu tun ist, brauchen andere noch ein frisches Getränk oder eine Entspannungszigarette. Doch auch in Halbzeit zwei tun sich die Italiener gegen gut gestaffelte Briten schwer, die aggressiv gegen den Ball arbeiten. Von gefährlichen Offensivaktionen der Italiener sieht man in etwa genauso viel, wie vorbeifahrende Autos auf der Straße – ab und an blitzt hier und da kurz etwas auf.

Doch in Minute 67 reagiert Abwehrspezialist Leonardo Bonucci im Durcheinander vor Englands Keeper Jordan Pickford am schnellsten und stochert die Kugel über die Linie – 1:1. Leonardo und Nico liegen sich in den Armen, die Sorgenfalten verschwinden und das Zahnpasta-Lächeln ist zurück. „Läuft“, sagt Chris, der auf 3:1 für Italien getippt hat. Aber: Da die großen Chancen im restlichen Spielverlauf ausbleiben, geht’s weiter in die Verlängerung.

Auch dort bleiben die Kontrahenten eher vorsichtig und wollen nicht zu viel riskieren – für beide steht an diesem Abend von Wembley viel zu viel auf dem Spiel. Die Clique ist sich nicht sicher, ob sie eine Entscheidung vom Punkt will. „Wenn’s ins Elfmeterschießen geht, kann England gar nicht gewinnen“, hört man. „Hoffentlich hast du recht“, sagt Nico, dessen älterer Bruder Daniel eine solche Entscheidungsfindung vorausgesagt hat, aber nicht dabei ist.

Dass er richtig liegt, steht kurz vor Mitternacht um 23.54 Uhr fest – und das, obwohl Belotti den zweiten Elfmeter vergibt. Doch Rashford setzt seinen Versuch „nur“ an den Außenpfosten, während Bernardeschi trifft – 3:2. Auch Sancho lässt liegen, während Jorginho den Matchball vergeigt. Nico, Leonardo und Co. sind völlig fertig. Doch auch Saka scheitert, weil Donnarumma hält. Aus, Ende, vorbei – 4:3. Nico hat Tränen in den Augen und ballt die Fäuste. Leonardo umarmt alles und jeden und schreit: „Jaaa, wir sind Europameister!“

Nach einem kurzen Prosit werden die Pferde gesattelt, also die Autos in Position gebracht. Das Ziel ist die Innenstadt, in der Nico und Co. auf Bruder Daniel treffen, der nicht weniger euphorisch und zufrieden mit seiner Expertise ist. Nach dem Autokorso kehren ein paar Fans ins Pub zurück und stoßen auf den Titel an. „Da hat wohl einer Ahnung gehabt“, teilt Dani mit. Stimmt – und, wie alle anderen, viel zu wenig Schlaf nach einer unvergesslichen Nacht.