Jedes Jahr erleiden bis zu 270.000 Menschen in Deutschland einen Schlaganfall. Selbst davon betroffen zu sein ist der Albtraum vieler. Ruth Pietsch aus Friedrichshafen weiß, wie es anfühlt. Die 57-Jährige wurde jetzt für den Motivationspreis der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe nominiert. Er wird alle zwei Jahre verliehen. Hier ihre Geschichte.
Ruth Pietsch musste am eigenen Leib spüren, wie sich ein Schlaganfall anfühlt. Als Ergotherapeutin behandelt sie nun selbst Schlaganfall-Betroffene. Die Pressemitteilung der Deutschen Schlaganfall-Hilfe soll Mut machen:
Es ist ein Montag im Oktober 2020. Die damals 53-Jährige leistet gerade ein Praktikum in einem Pflegeheim, als sie spürt: Da stimmt was nicht! Sie fühlt sich „komisch“, ihr linkes Bein ist schwächer, doch sie kann die Symptome nicht zuordnen. Am nächsten Tag geht sie zum Hausarzt, der schickt sie zum MRT – Diagnose: Schlaganfall! Sofort geht es auf die „Stroke Unit“, die Schlaganfall-Station in Friedrichshafen.
Der Schlaganfall hinterlässt Spuren
Erste Therapien und zahlreiche Untersuchungen folgen. Ruth Pietsch hat immer gesund gelebt, hat sich viel bewegt und ausgewogen ernährt. Die Ursache für ihren Schlaganfall findet man nicht. Sie gehört zu den rund 30 Prozent der jährlich 270.000 Schlaganfall-Betroffenen in Deutschland, die mit der Ungewissheit weiterleben müssen. „Ich habe mit veganer Ernährung begonnen und mache jetzt noch mehr Sport, zum Schutz vor einem zweiten Schlaganfall“, sagt sie.
Die Reha in den Schmieder Kliniken Gailingen bringt sie körperlich weit voran. Äußerlich fast gesund kehrt sie zurück nach Hause. Doch oft sind es gerade die unsichtbaren Folgen eines Schlaganfalls, die den Betroffenen zu schaffen machen. Etwa 80 Prozent der Patienten leiden unter so genannten neuropsychologischen Beeinträchtigungen. Sie können sich schlecht konzentrieren, werden vergesslich, sind manchmal desorientiert und geistig schnell erschöpft. Häufig bilden sich die Symptome nach einiger Zeit zurück. Bei Ruth Pietsch bleiben sie hartnäckig. Ob sie ihre Ausbildung fortsetzen kann, ist ungewiss. Mit ihrer Ausbildungsstätte vereinbart sie eine einjährige Auszeit.
„Das härteste Jahr meines Lebens“
Ruth Pietsch nutzt die Zeit intensiv für sich. Als angehende Ergotherapeutin kennt sie viele Übungen aus dem Hirnleistungstraining. Sie stellt sich ihr eigenes Programm zusammen, trainiert ihr Gehirn eisern täglich 4 bis 5 Stunden. Außerdem bewegt sie sich viel, läuft im Wald. Speziell das Gehen auf unebenem Boden scheint auch ihr Gehirn zu trainieren. Nach einem halben Jahr hat sie deutliche Fortschritte gemacht und nimmt ihre Ausbildung wieder auf. Sie hat noch ein Jahr bis zum Abschluss.
„Es wurde das härteste Jahr meines Lebens“, erinnert sie sich heute. Doch es lohnt sich. 2022 nimmt sie stolz ihr Examen entgegen. Ende gut, alles gut? Ruth Pietsch hat schon viel geschafft auf ihrem Weg zurück ins Leben. „Es ist fantastisch zu sehen, wie sich ein Gehirn verändern kann“, sagt sie heute. „Aber ich musste auch lernen, dass ich Ruhepausen brauche, damit sich diese neuen Verknüpfungen festigen können.“
Voll belastbar ist sie bis heute nicht, das Gedächtnis ist noch immer nicht voll zurück. „Ich glaube, so wie früher wird es nicht mehr. Aber ich habe Strategien gefunden, damit umzugehen, mache mir viele Notizen“, sagt sie. „Mein Beruf macht mich glücklich“ „Ich bin überglücklich, dass ich es gewagt habe, die Berufsausbildung weiterzuführen, und es auch geschafft habe.“
Verbesserungen bei Patienten sind ihre größte Freude
Ruth Pietsch arbeitet jetzt in Teilzeit (40 Prozent) in einer Praxis für Ergotherapie. Dort behandelt sie viele neurologische Patienten. „Ich kann mich in sie hineinversetzen und weiß, wie hilflos man sich fühlt“, sagt sie. Vor den Therapien macht sie mit ihren Patienten eine Bewegungseinheit. Sie hat selbst erlebt, dass Bewegung auch dem Hirn hilft, und weiß nun auch, dass das wissenschaftlich belegt ist. „Meine größte Freude ist es, Verbesserungen bei den Patienten zu sehen“, erklärt sie ihre hohe Motivation. „Und wenn es mir gelingt, die Patienten dahin zu bringen, diese Verbesserungen selbst wahrzunehmen.“
Alle zwei Jahre zeichnet die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe mit ihrem Motivationspreis Menschen aus, die sich als Betroffene, Ehrenamtliche oder Fachleute in herausragender Weise für das Thema Schlaganfall engagieren und durch ihr Vorbild andere motivieren.
Man darf nicht aufgeben
Am 15. November übergibt Stifterin und Präsidentin Liz Mohn in einem feierlichen Akt mit prominenten Gästen die Preise. Man darf gespannt sein, ob Ruth Pietsch dazugehören wird. Doch allein die Nominierung ist eine Auszeichnung – und so oder: sie wird weiter ihren Weg gehen. Denn Ruth Pietsch hat eine Botschaft: „Mit meiner Geschichte möchte ich anderen betroffenen Menschen Mut machen und zeigen, zu welchen Leistungen ein erkranktes Gehirn fähig sein kann.“
Mehr Informationen unter www.motivationspreis.de.
(Quelle: Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe)