Mutterseelenallein und doch mitten im Leben: Julia Gutting, Fachärztin der Oberschwabenklinik erlebt seit November eine ganz besondere Auszeit – als Leiterin der Neumayer-III-Station in der Antarktis. Dort begegnet sie schlafenden Weddellrobben, einer riesigen Kolonie von 30.000 Kaiserpinguinen – und manchmal auch verlassenen, erfrorenen Eiern, die sie für klimawissenschaftliche Studien sammelt.
„Für uns gilt eigentlich ein Sicherheitsabstand von 30 Metern“, erzählt Gutting, „aber die Pinguine wissen das nicht. Manche laufen einfach freudig auf einen zu.“ Solche Momente seien unvergesslich, sagt die 45-Jährige. „Allein vor einem Eisberg zu stehen – das ist atemberaubend.“

Abgeschnitten vom Rest der Welt
Seit Ende Februar ist das Meer wieder zugefroren. Die Forschungsstation ist für acht Monate unerreichbar – kein Flugzeug, kein Schiff, keine Nachschublieferung. Die Temperaturen fallen bald auf bis zu minus 49 Grad. Nur die Polarlichter erhellen dann die monatelange Dunkelheit.
Zusammen mit acht Kolleginnen und Kollegen – darunter Geophysiker, Meteorologen, Techniker, ein Koch und ein IT-Experte – trotzt Julia Gutting den extremen Bedingungen. Als Ärztin und zugleich Leiterin der Station ist sie für nahezu alles verantwortlich: medizinische Versorgung, Organisation, Koordination, Kommunikation – und das bei Schneestürmen mit Windgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h.

Von Ravensburg ins ewige Eis
Schon seit 13 Jahren arbeitet die gebürtige Freiburgerin bei der OSK, zuletzt in der Anästhesie. Ihre Sehnsucht nach Expeditionen, das Interesse an Natur und Wissenschaft, trieben sie zur Bewerbung auf die Antarktis-Stelle.
„Ich habe lange mit dem Gedanken gespielt, Biologie zu studieren. Expeditionen, kalte Regionen, das Meer – das hat mich schon immer fasziniert“, sagt Gutting. Als sie die Ausschreibung sah, wusste sie: „Da bewirbst du dich eines Tages.“ Die OSK ermöglichte ihr eine zweijährige Freistellung – mit voller Unterstützung von Personalchef Raimund Alker.
Vier Monate Crashkurs für den Ernstfall
Vor der Reise wurde Gutting intensiv vorbereitet: Hospitationen in Kliniken, Notfallmedizin, Zahnbehandlungen, psychologische Schulungen, Brandschutzübungen, Gletscherzelten und Teambuilding standen auf dem Plan.
Heute ist sie nicht nur medizinisch bestens ausgerüstet – mit OP-Saal, C-Bogen und direktem Telemedizin-Zugang zur Klinik in Bremerhaven – sondern auch mental gewappnet. „Wenn ich ein unklares Ultraschallbild habe, ist es in drei Sekunden bei einem Spezialisten in Deutschland.“
Forschung im Eis: Isolation als Studienobjekt
Neben ihrer Funktion als Ärztin und Stationsleiterin betreut Julia Gutting mehrere wissenschaftliche Studien – etwa zur Wirkung von Isolation auf das Immunsystem. Dafür entnimmt sie regelmäßig Blutproben und untersucht, wie sich das Sehvermögen in der schneeweißen Umgebung verändert.
Frühere Studien zeigten, dass der Hippocampus – das Gedächtniszentrum im Gehirn – in extremer Isolation um bis zu zehn Prozent schrumpfen kann. Julia Gutting beobachtet diese Prozesse nun hautnah.

Zwischen Verantwortung und Ritualen
Die Aufgaben auf der Station sind vielfältig: Wasserproben nehmen, Landebahn kontrollieren, Beflaggung prüfen, Meetings koordinieren, Studien betreuen. „Im Prinzip mache ich hier zwanzig Jobs auf einmal“, sagt sie. Doch genau das sei der Reiz an dieser besonderen Mission.
Auch kleine Rituale gehören zum Alltag: „Jeden Sonntag schauen wir gemeinsam den Tatort. Und ja – wir haben sogar eine Sauna.“ Trotz der Isolation habe sie kaum etwas vermisst – außer frischem Gemüse.
Ein Jahr für die Seele
Der bewusste Verzicht auf permanente Internetnutzung ist Teil ihrer persönlichen Erfahrung. „Ich möchte spüren, was die Antarktis mit mir macht – ohne vorgefertigte Bilder im Kopf. Deshalb habe ich das Buch meiner Vorgängerin bewusst nicht gelesen.“
Und die Angst? Was, wenn etwas passiert? In der Station oder in der Heimat? „Ich habe mich mit diesen Gedanken intensiv auseinandergesetzt. Das Jahr hier ist vergänglich – wie das Leben selbst. Ich nehme es ganz bewusst an.“

Fazit: Julia Gutting hat sich ihren Traum erfüllt – nicht als Aussteigerin, sondern als Forscherin, Ärztin und Abenteurerin. Ihre Eiszeit als Auszeit ist ein mutiger Schritt – und ein inspirierendes Kapitel in ihrem Leben.
(Quelle: OSK)