Zwischenfälle bei neuen Evakuierungen in der Ukraine

Um Zivilisten die Flucht aus belagerten Städten zu ermöglichen, haben sich die ukrainischen und russischen Streitkräfte auf eine Feuerpause auf bestimmten Fluchtrouten geeinigt.
Um Zivilisten die Flucht aus belagerten Städten zu ermöglichen, haben sich die ukrainischen und russischen Streitkräfte auf eine Feuerpause auf bestimmten Fluchtrouten geeinigt. (Bild: Felipe Dana/AP/dpa)

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Humanitäre Korridore sollen Zivilisten die Flucht aus insgesamt sechs belagerten Städten ermöglichen. Immer wieder kommt es zu Beschüssen.

Kiew (dpa) – Bei der Evakuierung von Zivilisten aus belagerten Städten in der Ukraine hat es erneut Zwischenfälle gegeben. In dem Dorf Demydiw rund 25 Kilometer nördlich der Hauptstadt Kiew feuerten russische Truppen nach Darstellung der Sicherheitskräfte auf ukrainische Polizisten.

Ein Polizist sei dabei getötet und ein weiterer schwer verletzt worden. Zudem sei ein Zivilist mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht worden, teilten die Beamten mit. Insgesamt seien aus der Ortschaft 100 Zivilisten in Sicherheit gebracht worden, darunter 30 Kinder. Die Angaben ließen sich nicht überprüfen.

Korridor in Mariupol funktioniert nicht

In der Hafenstadt Mariupol funktioniert nach Angaben der Separatisten im Gebiet Donezk der vereinbarte «humanitäre Korridor» weiterhin nicht. «Die Menschen verlassen Mariupol so schnell wie möglich aus eigener Kraft», sagte der Sprecher der prorussischen Kräfte, Eduard Bassurin, im russischen Staatsfernsehen. Nach seinen Angaben konnten am Dienstag 42 Menschen die Stadt am Asowschen Meer verlassen. Die Ukraine gab ihrerseits den Angreifern die Schuld. Außenminister Dmytro Kuleba schrieb bei Twitter: «Russland hält weiterhin mehr als 400.000 Menschen in Mariupol als Geiseln, blockiert humanitäre Hilfe und Evakuierung.» Der wahllose Beschuss gehe weiter.

In anderen Regionen liefen Evakuierungen an. Ukrainische Medien veröffentlichten Bilder aus Irpin bei Kiew, die zeigten, wie alte und kranke Menschen auf Tragen in Sicherheit gebracht wurden. Auf einem Foto war eine alte Frau auf einer Sackkarre sitzend zu sehen. In Worsel nahe der Hauptstadt wurde ein Kinderheim evakuiert.

In der Stadt Sumy im Nordosten des Landes trafen am Mittag Busse ein. Nach Angaben des Vizechefs des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, fuhren im südukrainischen Enerhodar sowie in Isjum nahe Charkiw im Nordosten die ersten Fahrzeuge mit Zivilisten ab. Die Ukraine hatte am Morgen in Abstimmung mit der russischen Seite von Fluchtrouten aus insgesamt sechs Städten gesprochen.

Tote bei Luftangriffen

Bei neuen Luftangriffen auf Städte in der Ukraine sollen 22 Menschen getötet worden sein, mehrere wurden verletzt. Darunter seien drei Kinder, so der Chef der Gebietsverwaltung Sumy, Dmytro Schywyzkyj. Die Leiche eines Jungen sei am Dienstag unter den Trümmern gefunden worden. Eine Bombe habe ein Privathaus getroffen und dort neun Menschen getötet, schrieb der Chef. Er veröffentlichte Fotos von völlig zerstörten Häusern und Trümmern auf den Straßen.

Die russische Armee habe zwei Stunden lang die zivile Infrastruktur des Ortes Sumy beschossen, so Schywyzkyj. Die Angaben sind nicht unabhängig zu prüfen.

In der Nähe der Großstadt Charkiw starben zwei Menschen, darunter ein sieben Jahre altes Kind, dem Zivilschutz zufolge beim Einschlag eines Geschosses in ein Wohnhaus. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar seien bei Kämpfen in Charkiw 170 Zivilisten getötet worden, darunter fünf Kinder, sagte ein Behördensprecher der Agentur Unian zufolge. Russland beharrt darauf, die Truppen griffen keine zivilen, sondern nur militärische Ziele an. In der Nähe der Stadt Schytomyr zerstörten Luftangriffe nach Angaben von Bürgermeister Serhij Suchomlyn ein Werk für Mineralwolle.

Rotes Kreuz: Lage in Mariupol «katastrophal»

Für das umkämpfte Mariupol fordere die Ukraine von Russland einen Fluchtkorridor nach Saporischschja, sagte Wereschtschuk. Seit Tagen werde vergeblich versucht, Hilfslieferungen in die Hafenstadt zu bringen. In Mariupol warten nach Angaben des Roten Kreuzes 200.000 Menschen darauf, aus der Stadt zu kommen. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ist die Lage katastrophal.

Nach Angaben aus Moskau sind prorussische Einheiten in der Stadt weiter auf dem Vormarsch. Kämpfer der selbst ernannten Volksrepublik Donezk seien seit dem Ende einer Waffenruhe bereits knapp einen Kilometer weit vorgedrungen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

«Waffenruhe verletzt! Russische Streitkräfte beschießen jetzt den humanitären Korridor von Saporischschja nach Mariupol», schrieb der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Oleg Nikolenko, bei Twitter.

Acht Lastwagen und 30 Busse stünden bereit, um humanitäre Hilfe nach Mariupol zu liefern und Zivilisten nach Saporischschja zu bringen. «Der Druck auf Russland MUSS erhöht werden, damit es seine Verpflichtungen einhält», schrieb Nikolenko weiter. Von russischer Seite gab es zunächst keine Angaben dazu. Am Morgen hatte der Sprecher der prorussischen Kräfte im Gebiet Donezk, Eduard Bassurin, behauptet, ukrainische «Nationalisten» blockierten die Evakuierung.

Separatisten räumen eigene Verluste ein

Erstmals räumten die Separatisten eigene Verluste ein. Seit Beginn der «Spezialoperation», wie Russland den Krieg in der Ukraine nennt, seien 47 Kämpfer der «Volksrepublik Donezk» getötet und 179 verletzt worden, sagte der Sprecher der prorussischen Kräfte im Gebiet Donezk, Eduard Bassurin, örtlichen Medien zufolge.

Das russische Verteidigungsministerium machte zu eigenen Verlusten erneut keine neuen Angaben. Zuletzt wurde die Zahl von fast 500 getöteten Soldaten genannt. Bisher seien 2581 militärische Ziele zerstört worden, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow. Darunter seien zahlreiche Raketenabwehrsysteme, Kontrollposten und Radarstationen, Hunderte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie 84 Kampfdrohnen.