„Weg mit dem Schubladendenken“

„Weg mit dem Schubladendenken“
(Bild: pixabay)

WOCHENBLATT
WOCHENBLATT

Freundlich nimmt Viona Lehner den Personalausweis des Kunden durch eine kleine Öffnung im Fenster entgegen und vergleicht die Daten mit den Angaben auf dem Computerbildschirm. Ein Spuckschutz trennt die Beiden. Die so genannte Identitätsprüfung ist verpflichtend, um Arbeitslosengeld zu erhalten. Viona ist Auszubildende bei der Agentur für Arbeit Konstanz- Ravensburg und sie ist seit ihrer Geburt halbseitig gelähmt.

Die Lähmung betrifft ihre gesamte rechte Körperhälfte, mit Einschränkungen hat sie gelernt zu leben. „Beim Treppensteigen muss ich mich mit der linken Hand am Geländer festhalten. In der rechten Hand kann ich dann gleichzeitig nichts tragen“, beschreibt die 20jährige eine typische Alltagssituation. „Schwierig ist es auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn die Lücke zwischen Zug und Bahnsteig groß ist und ich einen Koffer dabeihabe, brauche ich einfach mehr Zeit. Dann geht nur ein Schritt nach dem anderen.“ Mobilität ist für sie eine Alltagsherausforderung. Die Berufsschule ist in Karlsruhe und während ihrer Ausbildung ist sie in allen Geschäftsstellen zwischen Wangen und Konstanz eingesetzt. Viona sieht solche Situationen als Übungen. Je häufiger sie etwas übt und trainiert, desto flüssiger geht die Bewegung. „Ich kann Knöpfe mit einer Hand zumachen“, erzählt sie lachend. „Das können viele andere nicht.“

Ausbildung und Berufsalltag
Nach der Realschule stand für Viona fest, ein Verwaltungsberuf soll es sein. Bei der Agentur für Arbeit Konstanz Ravensburg startete sie vor drei Jahren die Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistungen. „Ich mag die Kombination aus Schreibtischarbeit und Kundenkontakt“, erzählt sie. „Ich habe schon immer gut lernen können, das fiel mir leicht. Ohne Trubel um mich herum kann ich mich gut konzentrieren und meine Aufgaben bewältigen.“ Im Arbeitsalltag beeinträchtigt sie ihre Lähmung nur wenig, sie hat gelernt dies auszugleichen. Ihre Arbeit macht sie tatsächlich meistens „mit links“. „Für meine Kolleginnen und Kollegen ist meine Behinderung gar kein Thema. Das kommt so gut wie nie zur Sprache. Ich bin ein ganz normales Mitglied im Team.“ Auf Gleichbehandlung legt Viona Lehner großen Wert. „Ich muss die gleiche Leistung erbringen wie die anderen Auszubildenden und erhalte am Ende den gleichen Abschluss.“

Nach Abschluss ihrer Ausbildung will sie Berufserfahrung sammeln und dann am liebsten ihr Wissen an nachfolgende Lehrlinge weitergeben. „Als Fachausbilderin für andere Auszubildende da sein, das könnte ich mir gut vorstellen“, sagt Viona. Ihre Behinderung soll bei der Karriereplanung keine Rolle spielen. „Wir müssen weg von diesem Schubladendenken. Es stört mich, wenn ich zuerst als Behinderte und erst danach als Mensch oder Mitarbeiterin wahrgenommen werde. Ich mag keine Sonderstellung in der Arbeit haben, sondern fair und wie alle anderen behandelt werden. Ich glaube, das ist im öffentlichen Dienst selbstverständlicher als woanders.“

Infobox 1:
Im November waren im Gebiet der Agentur für Arbeit Konstanz-Ravensburg 847 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet, gut 200 mehr als im November 2019. Für die Integration behinderter Menschen ins Berufsleben stehen der Arbeitsagentur rund 27 Mio. Euro zur Verfügung. Finanziert wer-den neben einer behindertengerechten Arbeitsplatzausstattung auch Trai-nings, Jobcoaches und Fortbildungen. Arbeitgeber können einen Lohnkos-ten- oder Ausbildungszuschuss erhalten.

Infobox 2:
Im Öffentlichen Dienst gilt die besondere Fürsorgepflicht für schwerbehin-derte Beschäftigte. Hierzu gehören unter anderem ein besonderer Kündi-gungsschutz, Zusatzurlaub und die Möglichkeit der vorgezogenen Alters-rente.
Öffentliche und private Arbeitgeber sind verpflichtet, wenigstens 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen. In den Behörden der Bundesverwaltung waren im Jahr 2016 7,6 Prozent und in der Privatwirtschaft 4,1 Prozent der Beschäftigten schwerbehindert. (Quelle: Sta-tistisches Bundesamt)