Was das Mindestlohnurteil für häusliche Betreuung bedeutet

Viele ältere Menschen werden in häuslicher Gemeinschaft von einer Betreuungskraft versorgt.
Viele ältere Menschen werden in häuslicher Gemeinschaft von einer Betreuungskraft versorgt. (Bild: Daniel Reinhardt/dpa/dpa-tmn)

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Viele Menschen werden zu Hause von einer Betreuungskraft aus dem Ausland versorgt. Oft ist das für sie schon ein finanzieller Kraftakt – umso mehr sorgte jüngst ein Grundsatzurteil für Aufregung.

Berlin (dpa/tmn) – Das Urteil ließ Pflegebranche, Politik und Tausende Pflegebedürftige und ihre Familien aufhorchen: Ausländische Betreuungskräfte, die in einen Privathaushalt entsandt werden, haben Anspruch auf gesetzlichen Mindestlohn, auch in Bereitschaftszeiten. Das haben die Richter am Bundesarbeitsgericht Ende Juni in einem Grundsatzurteil klargestellt (Az.: 5 AZR 505/20).

Die Entscheidung schlug hohe Wellen. Gewerkschaften begrüßten das Ende der «Billigarrangements», Patientenschützer und Sozialverbände warnten vor einer Kostenexplosion. Jene Menschen, die hierzulande in häuslicher Gemeinschaft von einer Betreuungskraft versorgt werden, konnte das verunsichern. Was ändert das Urteil für sie?

Nicht viel, wenn man dem Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) glaubt. Der begrüßt zwar die Entscheidung der höchsten deutschen Arbeitsrichter, hält jedoch auch fest: Das Urteil spreche eine Selbstverständlichkeit aus. Dass Bereitschaftszeit mit Mindestlohn vergütet werde, sei nichts Neues, sagt VHBP-Geschäftsführer Frederic Seebohm.

Ähnlich sieht es Katrin Andruschow von der Stiftung Warentest, die sich schon jahrelang mit der Pflegebranche beschäftigt: «Nach unserer Auffassung hätte Mindestlohn auch bisher schon gezahlt werden müssen.» Bei einer rechtskonformen Anstellung.

Branchenverband: Urteil greift oft nicht

Nur: Viele der geschätzt mehreren Hunderttausend, meist aus Osteuropa stammenden Betreuungskräfte, die in Deutschland arbeiten, sind hier illegal beschäftigt. Das gilt für einen überwiegenden Teil, glaubt der VHBP. Und auch für viele legal Tätige greift das Urteil nach Einschätzung von Verbandsgeschäftsführer Seebohm nicht.

Nämlich dann, wenn die Betreuungskräfte als freie Gewerbetreibende arbeiten – wenn sie also selbstständig tätig sind. Oder wenn sie als freie Mitarbeiterinnen mit Sozialversicherungsschutz durch osteuropäische Unternehmen entsandt werden. Von denen, die legal arbeiten, seien die meisten in diesen Modellen tätig, sagt Seebohm.

In dem verhandelten Fall am Bundesarbeitsgericht war die Klägerin, eine Frau aus Bulgarien, direkt bei einer bulgarischen Firma angestellt. Sie hat ihre Firma auf Zahlung des Mindestlohns verklagt und bekam Recht. Das heißt: Angestellte Betreuungskräfte können laut dem Urteil auf Mindestlohn pochen, auch in Bereitschaftszeiten. Den Firmen oder Menschen, bei denen sie angestellt sind, drohen in diesem Fall womöglich empfindliche Nachzahlungen.

Aber: Genau wie eine Anstellung direkt bei dem Menschen, der die Betreuung benötigt, sei die feste Anstellung bei einer Firma im Ausland ein eher seltenes Modell, sagt Seebohm, in dessen Verband Agenturen und Dienstleister organisiert sind, die ausländische Betreuungskräfte vermitteln.

Mit deutschem Arbeitsrecht nicht abzubilden

Dass das Angestelltenmodell wenig verbreitet ist, hat mit den Anforderungen der häuslichen Betreuung zu tun. «Diese Dienstleistung ist nur selten mit einer Nine-to-Five-Arbeitszeit umsetzbar und lässt sich mit klassischem deutschen Arbeitsrecht nicht abbilden, weil man leicht in die Bereitschaftsfalle tappt», begründet Seebohm.

Er betont zugleich, dass es nicht darum geht, dass die Betreuungskraft rund um die Uhr parat stehen muss. Das wäre Ausbeutung. Festgelegte Ruhezeiten und freie Tage muss es geben. Aber meistens ist an den Arbeitstagen die Einsatzzeit eben gestückelt, und manchmal sind die Kräfte einfach nur «da», also gewissermaßen in Bereitschaft – streng nach deutschem Arbeitsrecht müsste man dann für eine Vollzeit-Betreuung drei bis vier Kräfte beschäftigen und dafür monatlich einen fünfstelligen Betrag einplanen.

Betreuungsbedarf realistisch einschätzen

Doch meist lässt sich der Bedarf an Betreuung auch mit einer Person realistisch abbilden. Seriöse Vermittler prüfen das auch ganz genau, ehe sie eine Betreuungskraft aus Osteuropa schicken.

Es muss jedem klar sein: Bei der häuslichen Betreuung geht es um Hilfe im Haushalt, sei es Putzen oder Kochen, um Gesellschaft und um Unterstützung bei gewissen Tätigkeiten der Grundpflege, etwa beim Waschen. «Das ist keine Betreuung rund um die Uhr», sagt Katrin Andruschow. «Man muss also nicht drei, vier Leute beschäftigt haben.»

Wobei es etwa bei Menschen mit dementiellen Einschränkungen oder besonderen Pflegebedürfnissen durchaus Teil der Aufgaben sein kann, dass die Betreuungskraft nachts zu bestimmten Zeiten tätig ist. Entsprechend sind dann Ruhezeiten am Tag und Freizeitausgleich einzuplanen. «Da muss man immer schauen», sagt Andruschow: «Was kann ich dem Angehörigen und der Betreuungskraft persönlich zumuten – und was ist in puncto adäquater Versorgung und Einhaltung von Arbeitszeiten grundsätzlich vertretbar?»

Laut Branchenverband VHBP sind sich die meisten vermittelten Betreuungskräfte aus Osteuropa ihres Wertes längst bewusst. Sie lassen sich weder mit Dumpinglöhnen abspeisen, noch übernehmen sie ein Arbeitspensum, das über die Absprache der Familie oder des Betreuungsbedürftigen mit der Vermittlungsagentur hinausgeht. In dem Fall reisten sie durchaus binnen Stunden wieder ab.

Man muss an dieser Stelle vielleicht auch einmal klarstellen: Betreuung und professionelle Pflege sind nicht gleichzusetzen. «Wenn Pflegebedürftigkeit da ist, ist es immer sinnvoll und wichtig, eine professionelle Pflegekraft hinzuzuziehen – spätestens aber ab dem Pflegegrad 3 sollte ein ambulanter Pflegedienst zusätzlich tätig werden. Da wird es natürlich insgesamt teurer», sagt Andruschow.

Risiko Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit

Wer – um Geld zu sparen – eine Betreuungskraft schwarz beschäftigt, sollte immer im Hinterkopf haben: Fliegt die Sache auf, müssen die Sozialabgaben, die eigentlich zu zahlen gewesen wären, rückwirkend abgedrückt werden. Das sind schnell mal Tausende Euro. Zudem droht ein Strafverfahren, wie Andruschow sagt. Und auch wenn die Person scheinselbstständig ist, kann das auf die Betreuungsbedürftigen und ihre Familien zurückfallen, wenn das rauskommt.

Die Expertin der Stiftung Warentest sagt, dass das Selbstständigen-Modell Tücken habe. Ob jedoch eine Scheinselbstständigkeit vorliege, lasse sich nicht pauschal sagen. «Das entscheiden die Gerichte immer im Einzelfall.» Beispielsweise gebe es bei Vermittlungsagenturen, die Selbstständige vermitteln, oft Wechselmodelle. Die Betreuungskräfte haben dann mehrere Kunden im Jahr. Wer jedoch dauerhaft nur in einem Haushalt arbeitet und keine weiteren Auftraggeber hat, dürfte wohl als scheinselbstständig gelten. Für Selbstständige greifen weder das deutsche Arbeitszeitgesetz noch der Mindestlohn.