Seit Wochen wird über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht diskutiert. Gegner und Befürworter werben für ihren Weg. Rund um das Regierungsviertel protestieren Menschen gegen die Corona-Maßnahmen.
Berlin (dpa) – Der Bundestag debattiert heute erstmals ausführlich über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland.
Ihre Befürworter sehen darin eine nötige Maßnahme, um im Kampf gegen das Coronavirus die Impfquote deutlich zu erhöhen und damit die Pandemie in den Griff zu bekommen. Die Gegner bezweifeln die Notwendigkeit einer solchen Pflicht und verweisen darauf, dass führende Politiker aller Parteien bis kurzem unisono erklärt haben, es werde keine Impfpflicht geben.
Die Beratungen beginnen um 15.00 Uhr und sind auf drei Stunden angesetzt. Es handelt sich um eine sogenannte Orientierungsdebatte. Dieser liegt noch kein konkreter Gesetzentwurf zugrunde. Wie aus einer Rednerliste der SPD-Fraktion hervorgeht, wird Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in der Debatte als SPD-Abgeordneter das Wort ergreifen – Kanzler Olaf Scholz dagegen nicht.
Abstimmung ohne Fraktionsdisziplin
SPD, Grüne und FDP haben vereinbart, dass die Abgeordneten in freier Abstimmung ohne übliche Fraktionsvorgaben beraten und entscheiden sollen. Scholz begründet die offene Debatte auch damit, dass dies einen befriedenden Konsens ermöglichen soll. Offenkundig gibt es in der Ampel-Koalition aber auch keine gemeinsame Linie dazu. Die oppositionelle Union spießt das als mangelnde Führung auf und verlangt einen Gesetzentwurf der Regierung. Scholz und Lauterbach haben sich als Abgeordnete klar für eine Impfpflicht ab 18 ausgesprochen.
Stand Ende Januar wären viele Bundesbürger von einer solchen Impfpflicht nicht berührt: Mindestens 42,2 Millionen Menschen oder 50,8 Prozent aller Einwohner sind bereits «geboostert». Sie haben also meist drei Spritzen bekommen und damit alle empfohlenen Impfungen. Viele zweifach Geimpfte dürften bald folgen. Unter den 69,4 Millionen Erwachsenen sind aber laut Robert Koch-Institut (RKI) noch 15 Prozent nicht geimpft. Manche können sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen.
Drei Ansätze für Impfpflicht
Im Wesentlichen gibt es bisher drei Ansätze für eine allgemeine Impfpflicht: Ein Entwurf für eine Pflicht ab 18 Jahre, die sich auch Scholz vorstellt, wird gerade von Parlamentariern aller drei Ampel-Fraktionen vorbereitet. Eine Gruppe um den FDP-Abgeordneten Andrew Ullmann konkretisierte einen Vorstoß für einen «Mittelweg»: Mit einem verpflichtenden, professionellen und persönlichen Beratungsgespräch für alle volljährigen Ungeimpften. Und wenn so nach gewisser Zeit die nötige Impfquote nicht erreicht wird, eine Pflicht zum Nachweis einer Impfung ab 50 Jahren. Eine Gruppe um FDP-Vize Wolfgang Kubicki will eine Impfpflicht generell verhindern.
Verschiedene Lager
Vor der Orientierungsdebatte warben Parteivertreter aller Lager erneut für ihre Positionen. «Das Alter ist ein einfach zu messender Risikofaktor für einen schweren Verlauf», sagte Ullmann der «Augsburger Allgemeinen». «Eine Impfnachweispflicht für Personen, die älter als 50 Jahre sind, kann dieses Ziel erfüllen.» Es wäre ein milderer staatlicher Eingriff als eine allgemeine Impfpflicht. Dem Nachrichtenportal t-online sagte er: «Mir wurde schon in Aussicht gestellt, dass die Mehrheit der Union auf unserer Seite sei.»
Kubicki sagte der «Rheinischen Post» zur Erklärung seiner Impfpflicht-Ablehnung: «Eine Impfung, die nicht zu einer sterilen Immunität führt, ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich nicht begründbar (…). Das unterscheidet die Impfung gegen Sars-CoV-2 von der Impfung gegen Masern oder Pocken.»
Aus Sicht der Deutschen Stiftung Patientenschutz bietet die Orientierungsdebatte «die große Chance, es besser zu machen, als bei der medizinisch-pflegerischen Impfpflicht». «Denn ein Gesetz muss vom Ende heraus bedacht werden. Dabei sind die Folgen für die Gesellschaft, die administrative Zwänge und für den Rechtsstaat in den Blick zu nehmen», sagte Vorstand Eugen Brysch der dpa.
Weniger Demonstranten als erwartet
An den angekündigten Demonstrationen gegen eine Corona-Impfpflicht im Berliner Regierungsviertel haben zunächst deutlich weniger Menschen teilgenommen als erwartet. Insgesamt mehr als tausend Demonstranten versammelten sich am Nachmittag an verschiedenen Stellen außerhalb der Absperrungen der Polizei rund um das Reichstagsgebäude.
Die Polizei sprach gegen 14.00 Uhr von rund 600 Menschen im Bereich des Lustgartens nahe dem Berliner Dom und 300 weiteren Demonstranten auf der Straße Unter den Linden. Dort löste die Polizei eine größere Versammlung wegen Missachtung der Corona-Regeln auf. Einige weitere kleinere Gruppen würden durch die Straßen am Regierungsviertel ziehen, hieß es. Bis zu zehntausend Demonstranten waren nach den vielen Aufrufen im Internet erwartet worden. Angemeldet waren die Kundgebungen fast alle nicht.
An mehreren Stellen gab es laut Polizei Rangeleien, weil Demonstranten gegen die Absperrungen drückten oder sich weigerten, den Anweisungen zu folgen. Die Polizei sprach zunächst von vier vorläufigen Festnahmen. Der Bereich um das Reichstagsgebäude war weiträumig abgesperrt. Auch zum Brandenburger Tor gab es keinen Zugang.
Die Berliner Polizei hat sich auf eine große Zahl von Demonstranten bei den angekündigten Protesten gegen eine Impfpflicht eingestellt. 1600 Polizisten seien bei den Demonstrationen im Regierungsviertel und am Brandenburger Tor im Einsatz, sagte eine Sprecherin. Rund um das Reichstagsgebäude würden weiträumig Absperrungen aufgebaut. Wasserwerfer stünden bereit. Die Bundespolizei sei auch auf den Bahnhöfen präsent und beobachte die Lage.