Der Bürgermeister, der sich zur Wehr setzte

Bernhard Ritzler, Bürgermeister der Gemeinde Untermarchtal, sitzt vor dem Rathaus auf einer Bank.
Bernhard Ritzler, Bürgermeister der Gemeinde Untermarchtal, sitzt vor dem Rathaus auf einer Bank. (Bild: Christoph Schmidt/dpa/Archivbild)

Deutsche Presse-Agentur
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Polizistinnen, Krankenpfleger, Jobcenter-Kräfte – sie leisten Dienst für das Gemeinwohl. Noch nie wurden so viele von ihnen Opfer von Gewalt. Ein Bürgermeister aus dem Alb-Donau-Kreis bekam es am eigenen Leib zu spüren.

Bernhard Ritzler weiß, dass er vielleicht nicht sehr vernünftig gehandelt hat, damals, an jenem Abend im September 2021. Es dämmert bereits, als der Bürgermeister von Untermarchtal durch den Ort im Alb-Donau-Kreis fährt. Plötzlich entdeckt Ritzler Holzblöcke mitten auf der Fahrbahn. Ein Anwohner sägt Holz, mitten auf der Straße. Ritzler spricht ihn darauf an, doch der Mann ist uneinsichtig. Beide geraten in Streit. Der Anwohner verschwindet in seiner Scheune, kommt plötzlich mit einem Messer zurück und geht auf Ritzler los. «Ich habe nicht nachgedacht», sagt der 60-Jährige heute. «Eigentlich hätte ich einfach weggehen müssen.»

Noch nie hat die Polizei so viele Angriffe auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst verzeichnet wie heute. 1195 von ihnen wurden im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg Opfer von Gewalt – knapp 15 Prozent mehr als im Vorjahr, wie das Innenministerium am Dienstag mitteilte. Innenminister Thomas Strobl (CDU) nennt diese Taten «besonders verabscheuungswürdig». Zu den Angegriffenen zählen Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiter in Krankenhäusern, Jobcentern oder Bürgerämtern sowie kommunale Mandatsträger, also Gemeinderäte – oder Bürgermeister wie Bernhard Ritzler.

Der ist nicht nur seit knapp 20 Jahren Kommunalpolitiker, sondern war auch fast 30 Jahre lang Polizist. Statt die Flucht zu ergreifen, setzen bei ihm an jenem Abend die Reflexe ein. Ritzler greift sofort nach der Hand des Angreifers, rangelt den Mann zu Boden, wirft sich auf ihn. Es gelingt ihm, die Hand mit dem Messer festzuhalten, aber nicht, den Angreifer zu entwaffnen. Der tritt ihn, windet sich, will sich befreien. Zehn Minuten dauert der Kampf der beiden Männer auf der Straße. Zehn Minuten, bis die Polizei eintrifft. Zehn sehr lange Minuten für Bernhard Ritzler. «Ich war hundskaputt», erzählt er heute in schwäbischem Dialekt.

Auch Polizisten werden im Südwesten immer häufiger attackiert. 2022 erfasste die Statistik 12 614 von ihnen, die Opfer von Gewalt wurden. Leicht verletzt wurden bei den Angriffen laut Kriminalstatistik 2661 Beamte. 26 Polizisten erlitten schwere Verletzungen.

Ritzler kommt mit Schürfwunden davon. Der Bürgermeister ist auch in seiner 29-jährigen Laufbahn im aktiven Polizeidienst immer wieder angegriffen worden. Einmal habe ihn in jungen Jahren jemand so heftig ins Kinn gebissen, dass er noch heute eine Narbe im Gesicht trägt. Aber für Ritzler ist es ein Unterschied, ob man als Polizist oder als Kommunalpolitiker angegriffen wird. «Als Polizist stellt man sich innerlich darauf ein – und kann zum Beispiel mit Pfefferspray reagieren», sagt er. «Als Bürgermeister rechnet man nicht damit.» Der Respekt vor öffentlich Bediensteten sei über die Jahre geschwunden. Berufe, die dem Gemeinwesen dienten, müssten besser geschützt werden, findet er. «Die Gesellschaft ist gefordert.»

Um ein möglichst genaues Lagebild zu Gewalttaten gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst zu bekommen, entwickelt das Innenministerium gemeinsam mit anderen Landesministerien sowie den kommunalen Landesverbänden eine neue Internetplattform. Dort sollen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes Gewalttaten melden können.

Der Opposition reicht das nicht. Sie fordert besseren Schutz von Beamten und Bürgermeistern und mehr Prävention. Die SPD kritisiert, dass in Baden-Württemberg immer noch die vollständige Anschrift der Kandidatinnen und Kandidaten bei Kommunalwahlen auf dem Stimmzettel abgedruckt ist. Die AfD sieht die Ursache – wie so oft – in der «ungehemmten Migration». Und die FDP wirft Innenminister Strobl Versäumnisse vor, nennt ihn einen «machtlosen Beobachter» der seit Jahren sich zuspitzenden Entwicklung.

Ritzler ist immer noch Bürgermeister in Untermarchtal, seit nunmehr 14 Jahren. Er könne auch wieder ruhig schlafen, erzählt er. Trotzdem ist er wütend: Das Verfahren gegen den Angreifer mit dem Messer wurde eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hatte angeführt, dass der Mann in einem anderen Verfahren bereits bestraft worden sei und dass der Aufenthaltsort des offiziell wohnsitzlosen Beschuldigten nicht zu ermitteln sei. Das Problem: Der Mann besitzt ein Haus in Untermarchtal, ist dort aber nicht gemeldet. Ritzler kann die Begründung nicht nachvollziehen. Er sieht den Mann regelmäßig im Ort.

Empört schreibt er der zuständigen Staatsanwältin, dass damit «seitens der Behörden wieder einmal die Botschaft gesendet wird, dass man sich fast alles erlauben kann, ohne dafür eine Ahndung befürchten zu müssen.» Zumindest ein paar Sozialstunden hätten nicht geschadet. Er, so sagt er heute, würde jedenfalls wieder genauso handeln.