Kretschmann fordert Kontaktverzicht

Kretschmann fordert Kontaktverzicht
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, spricht. (Christoph Schmidt/dpa/Archivbild)

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Sigmaringen/Reutlingen/Stuttgart (dpa/lsw) – Wegen der steigenden Zahl von Corona-Neuinfektionen schränken erste Kliniken wieder Besuche ein. Damit soll das Risiko einer Ansteckung für Patienten und Mitarbeiter minimiert werden, teilten etwa die SRH-Kliniken Sigmaringen mit. Einen Riegel für Besucher schieben auch die Kreiskliniken Reutlingen an den Standorten Reutlingen, Münsingen und Bad Urach vor.

Gleichzeitig ruft die Landesregierung die Bürger im Südwesten eindringlich zur Vermeidung von Kontakten auf. Die Bürger müssten diszipliniert sein, sonst werde man auf einen Lockdown zurückgreifen müssen mit enormen Kollateralschäden, warnte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in Stuttgart.

Wer länger als fünf Tage im Klinikum Stuttgart bleiben muss, muss eine Person nennen, die zu Besuch kommen darf. Diese darf keine Symptome einer Infektion haben. Im Olgahospital des Klinikums Stuttgart, Deutschlands größter Kinderklinik, gelten etwas großzügigere Regelungen: Kinder dürfen ab dem ersten Tag Besuch von einer Person erhalten.

Der Besucherstopp der SRH-Kliniken gilt an allen drei Standorten in Sigmaringen, Pfullendorf und Bad Saulgau. Ausgenommen seien etwa Angehörige, die einen im Sterben liegenden Patienten besuchen wollten. Auch dürfe eine Person eine Schwangere bei der Geburt begleiten.

Seit Dienstag dürfen Patienten zudem an der Helios Rosmann Klinik in Breisach nur noch in Ausnahmesituationen von einem Angehörigen besucht werden. «Mir ist sehr bewusst, wie schwierig es ist, Menschen den Besuch bei kranken Angehörigen zu versagen. Wir ergreifen diese Maßnahmen, um unsere Patienten und Mitarbeiter vor einer Übertragung von Infektionskrankheiten so gut wie möglich zu schützen», erklärte Klinikgeschäftsführerin Beatrice Palausch.

Eine landesweite Vorgabe zu Besucherstopps gibt es laut Gesundheitsministerium nicht. Derzeit seien keine weitergehenden landesweiten Kontaktbeschränkungen über die bereits bestehenden hinaus für die Pflegeeinrichtungen angedacht, sagte ein Sprecher. Momentan seien grundsätzlich zwei Besucher pro Tag für jeden Pflegebedürftigen erlaubt. Für eine landesweite Regelung sei die Lage im Land zu heterogen. «In der jetzigen Phase der Pandemiebekämpfung geht es darum, regional durch die zuständigen Vor-Ort-Behörden auf das Pandemiegeschehen zu reagieren», sagte der Ministeriumssprecher.

Wie die Landrätin des Landkreises Sigmaringen mitteilte, gibt es im Kreis ein diffuses Infektionsgeschehen ohne Hotspots. «Mit einer Sieben-​Tage-Inzidenz von 22 und aktuell 40 Infizierten ist der Landkreis Sigmaringen aktuell weniger stark betroffen als andere Kreise in der Region», betonte Stefanie Bürkle. Doch schon in ein paar Tagen könne die Welt ganz anders aussehen. «Mit ein oder zwei großen Ausbruchsgeschehen sind wir rasch über der kritischen Inzidenzmarke.»

Die Landesregierung rief die Bürger im Südwesten am Dienstag erneut zur Vermeidung von Kontakten auf. Man habe nicht mehr viele Dinge im Köcher bis zum Lockdown, warnte Kretschmann. Zur Eindämmung der Pandemie gelten bereits im ganzen Land seit Montag strengere Regeln. Dazu gehören eine erweiterte Maskenpflicht sowie verschärfte Kontaktbeschränkungen – und zwar unabhängig davon, ob die jeweilige Stadt oder der Landkreis die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche überschreitet. Privat wie öffentlich dürfen sich nur noch maximal zehn Menschen treffen – es sei denn, sie leben in höchstens zwei unterschiedlichen Haushalten. In Stuttgart wurde eine Sperrstunde eingeführt, die von diesem Donnerstag an gelten soll.

«Wir gewinnen das Spiel und verflachen die Kurve durch Gesamtreduktion unserer sozialen Kontakte, sagte Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Man tue alles, um das Gesundheitswesen zu stärken. Im Land gebe es bereits 1017 Corona-Schwerpunktpraxen, 34 Abstrichstellen und 14 Fieberambulanzen. Derzeit würden 94 akute Covid-19-Fälle in den Krankenhäusern behandelt, 50 Patienten würden intensiv beatmet. Das Land verfüge über 981 freie Intensivbetten und eine Notfallreserve von rund 1670 Betten.

Die Bundeswehr hilft unterdessen in immer mehr Regionen in Baden-Württemberg im Kampf gegen die Pandemie. Die Bundeswehr habe bereits 14 Anträge auf Amtshilfe von Stadt- und Landkreisen aus dem Südwesten bewilligt, teilte Kretschmann mit. Aktuell seien 101 Kräfte in sieben Gesundheitsämtern vor Ort im Einsatz. In weiteren sieben Kreisen laufe die Planung für den Einsatz von 66 Kräften. Sieben weitere Anträge auf Amtshilfe für weitere 59 Kräfte seien noch nicht bewilligt. Die Soldaten und Reservisten unterstützen die Ämter vor allem bei der telefonischen Kontaktnachverfolgung.

Kretschmann verteidigt die Beschränkung der Teilnehmerzahl für Trauergottesdienste und Bestattungen im Freien. «Eine Trauerfeier mit 100 Personen ist jetzt nicht gerade an der Grenze der Pietät», sagte er. «Es muss ja niemand Angst haben, dass wir auf Friedhöfe gehen und sagen: Du darfst da nicht stehen.» Die Probleme lägen bei muslimischen und freikirchlichen Trauerfeiern, wo sich Hunderte Personen treffen würden. An Trauerfeiern und Bestattungen im Freien dürfen nur noch 100 Personen teilnehmen.

Kunststaatssekretärin Petra Olschowski (Grüne) hält zudem die bestehende Teilnehmergrenze von 500 Besuchern in Kultureinrichtungen für berechtigt. Im Gegensatz zu anderen Veranstaltungen spreche das Publikum etwa im Theater nicht. Aufgrund der geltenden Abstandsregeln gebe es aber ohnehin «kein Haus, das eine 500er-Besetzung tatsächlich realisieren kann», sagte Olschowski. Oft sind Theater laut der Staatssekretärin zu einem Viertel oder einem Drittel besetzt. Durch die mittlerweile bestehende Maskenpflicht in vielen Theatern reagiere man angemessen auf eine steigende Zahl an Corona-Infektionen.

Unterdessen warnten die neun Industrie- und Handelskammern am Oberrhein vor den wirtschaftlichen Folgen von möglichen Grenzschließungen und -kontrollen. Fahr- und Reiseverbote sollten in erster Linie im Binnenland überwacht werden. Der Wirtschaftsverkehr zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz müsse möglichst reibungslos verlaufen.