Konflikt in Osteuropa: Kiew fordert Ukrainer zur Ausreise aus Russland auf

Einige Menschen halten im Rahmen der patriotischen Aktion «Mariupol ist die Ukraine» eine große Fahne.
Einige Menschen halten im Rahmen der patriotischen Aktion «Mariupol ist die Ukraine» eine große Fahne. (Bild: Sergei Grits/AP/dpa)

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Schätzungen zufolge leben mehr als drei Millionen Ukrainer in Russland – sie sollen Kiew zufolge nun das Land «unverzüglich» verlassen. Washington sagt derweil ein Treffen mit Moskau ab.

Washington/Brüssel/Kiew/Moskau (dpa) – Vor dem Hintergrund der massiven Spannungen mit Russland hat die Ukraine ihre Staatsbürger zum «unverzüglichen» Verlassen des Nachbarlandes aufgefordert. Das teilte das ukrainische Außenministerium am Mittwoch mit.

Frühere Schätzungen gingen von mehr als drei Millionen Ukrainern aus, die dauerhaft oder zeitweise in Russland leben.

Die Ukraine betreibt zudem neben der Botschaft in Moskau vier Konsulate in St. Petersburg, Rostow am Don, Jekaterinburg und Nowosibirsk. Außenminister Dmytro Kuleba hatte kürzlich Präsident Wolodymyr Selenskyj den Abbruch der diplomatischen Beziehungen angeraten. Der ständige Vertreter der Ukraine wurde bereits zu Konsultationen nach Kiew zurückgerufen. Die beiden Nachbarstaaten haben bereits seit Jahren keine Botschafter mehr im Nachbarland.

Die USA erklärten geplante hochrangige diplomatische Gespräche mit der russischen Regierung derweil für hinfällig. US-Außenminister Antony Blinken sagte ein für diesen Donnerstag in Genf geplantes Treffen mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow ab. Zwar sei die US-Regierung grundsätzlich weiter zu diplomatischen Gesprächen bereit. Doch die russische Regierung müsse zeigen, dass es ihr ernst sei.

In den vergangenen Tagen war auch ein persönliches Treffen von US-Präsident Joe Biden und Kremlschef Wladimir Putin im Gespräch gewesen. Das Treffen von Blinken und Lawrow hätte der Vorbereitung dienen sollen. Eine direkte Zusammenkunft von Biden und Putin ist nun aber vorerst vom Tisch, wie die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, erklärte. Aktuell, da Putin die Invasion eines souveränen Landes vorantreibe, sei nicht der richtige Zeitpunkt für ein solches Treffen, sagte sie.

Selenskyj kündigt Teilmobilmachung von Reservisten an

Biden rechnet weiter mit einem großangelegten Angriff Russlands auf das Nachbarland. «Wir glauben nach wie vor, dass Russland bereit ist, deutlich weiterzugehen und einen massiven Militärschlag gegen die Ukraine zu starten», sagte der US-Präsident im Weißen Haus. Er bezeichnete Moskaus Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk und die geplante Entsendung russischer Truppen dorthin als «Beginn einer Invasion». Putin liefere «eine Begründung für die gewaltsame Einnahme weiterer Gebiete».

Die USA verlegen angesichts der Lage zusätzliche Soldaten und Ausrüstung nach Osteuropa. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederum kündigte in einer Videobotschaft eine Teilmobilmachung von Reservisten an.

Ukraine-Botschafter: Sanktionen womöglich zu spät

Der ukrainische Botschafter in Deutschland begrüßt die Sanktionen gegen Russland – befürchtet aber, dass sie zu spät kommen. Er schätze sehr die Einigkeit in der EU und den USA und die bereits getroffenen Maßnahmen wie die Aussetzung der deutsch-russischen Gaspipeline Nord Stream 2, sagte Andrij Melnyk am Mittwoch im Deutschlandfunk. «Wir begrüßen das alles, nur heute könnte es zu spät sein.»

Manche der nun beschlossenen Sanktionen seien ein gutes Signal – man hätte diese Schritte seiner Ansicht nach aber direkt nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim vor acht Jahren setzen müssen. «Heute hat das natürlich gewisse Auswirkungen, aber wahrscheinlich keine dramatischen auf die Entschlossenheit von Putin, diesen Krieg zu führen. Und wenn ich sage „Krieg“, dann bedeutet das regelrecht, er möchte die Ukraine aus der Karte löschen.» Melnyk zufolge steht aber nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte freie Welt auf dem Spiel.

EU und USA bringen Sanktionen auf den Weg

Die USA und Europa hatten zuvor mit einem Paket von Strafen auf die jüngste Eskalation Moskaus in der Ukraine-Krise reagiert. Die Europäische Union beschloss Sanktionen gegen Russland, die bereits an diesem Mittwoch in Kraft treten sollen.

Die neuen EU-Sanktionen sehen unter anderem vor, jene 351 Abgeordnete des russischen Parlaments auf die Sanktionsliste zu setzen, die für die Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk gestimmt haben. Hinzu kommen Strafen gegen 27 weitere Personen und Organisationen. Darüber hinaus sollen der Zugang des russischen Staates zu den EU-Finanzmärkten beschnitten und der Handel der EU mit den abtrünnigen Regionen beschränkt werden.

Gegen Putin persönlich wurden vorerst keine EU-Sanktionen verhängt, wie der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Sondertreffen der EU-Außenminister in Paris bestätigte. Man habe so entschieden, um weitere Maßnahmen in Reserve zu haben.

Die US-Regierung kündigte Sanktionen gegen zwei große russische Banken, gegen den Handel mit russischen Staatsanleihen und gegen Unterstützer Putins und deren Familien an. Biden betonte, die USA seien zu noch härteren Strafmaßnahmen bereit, falls Russland sein Vorgehen gegen die Ukraine weiter vorantreibe. Ein US-Regierungsbeamter sagte, in diesem Fall sei «keine russische Finanzinstitution sicher». Ebenso könnten Exportkontrollen folgen. Auch ein Ausschluss Russlands aus dem internationalen Bezahlungssystem Swift sei bei einer Eskalation immer noch möglich.

Deutschland stoppt Nord Stream 2

Die Bundesregierung wiederum legte die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 vorerst auf Eis, wodurch Putin milliardenschwere Geschäfte erst einmal abschreiben kann.

Der Stopp von Nord Stream 2 erfolgte konkret dadurch, dass die Ampel-Bundesregierung einen Bericht der schwarz-roten Vorgängerregierung an die Bundesnetzagentur zurückzog. Dabei geht es um eine Analyse zur Versorgungssicherheit. «Das klingt zwar technisch, ist aber der nötige verwaltungsrechtliche Schritt, damit jetzt keine Zertifizierung der Pipeline erfolgen kann», sagte Scholz. Ohne diese könne Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen.

Scholz hält es für durchaus möglich, dass die vorläufig gestoppte Gaspipeline nie in Betrieb geht. «Jetzt jedenfalls ist das eine Situation, in der niemand darauf wetten sollte», sagte er in der ARD. «Da sind wir jetzt erstmal weit von entfernt.» Ähnlich äußerte sich der SPD-Politiker zu dieser Frage auch im ZDF.

Großbritannien, Kanada und Australien verkündeten ebenfalls Strafmaßnahmen gegen Russland. Die britische Außenministerin Liz Truss verteidigte nach Kritik die bisherigen Sanktionen ihrer Regierung gegen Russland. «Wir haben unser härtestes Sanktionsregime gegen Russland eingeführt. Nichts ist ausgeschlossen», schrieb die konservative Politikerin am Mittwoch in einem Gastbeitrag in der «Times».

Premierminister Boris Johnson hatte am Dienstag angekündigt, Sanktionen gegen fünf russische Banken und drei extrem reiche russische Staatsbürger zu verhängen. Alle drei Geschäftsleute gelten als enge Verbündete von Russlands Präsident Wladimir Putin. Die Opposition, aber auch konservative Abgeordnete kritisierten die Maßnahmen als zu lasch, eine Expertin bezeichnete sie als «Witz».

Entsendung russischer Truppen in die Ostukraine

Kremlchef Putin hatte ungeachtet großen internationalen Protests die Unabhängigkeit der Separatistenregionen Donezk und Luhansk in der Ostukraine anerkannt und eine Entsendung russischer Soldaten angeordnet. Der Kremlchef plant zum zweiten Mal nach 2014 einen Einmarsch in die Ukraine. Der Westen wirft Putin vor, gegen Völkerrecht zu verstoßen. Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen.