Kommentar: Der Abzug aus Afghanistan kam zu früh

Der Abzug aus Afghanistan kam zu früh, meint WOCHENBLATT Redakteur David Pichler.
Der Abzug aus Afghanistan kam zu früh, meint WOCHENBLATT Redakteur David Pichler. (Foto links: Pixabay / Fotos rechts: Privat)

Kurz vor dem Jahrestag der Anschläge vom 11. September und nur wenige Wochen, nachdem der deutsche Außenminister im Bundestag die Möglichkeit einer Taliban- Übernahme noch bestritt, ist genau das Realität: die Taliban sind zurück und erklären sich nach der Übernahme des Präsidentenpalastes in Kabul zu Siegern und den Krieg für beendet. Währenddessen räumen die NATO und die westlichen Länder eilig und chaotisch ihre Botschaften.

Tausende getötete Soldaten, unzählige zivile Opfer sind nach einem 20-jährigen Einsatz zu beklagen. War das nun alles umsonst? Der Abzug der NATO-Truppen jedenfalls kam viel zu früh – das meint WOCHENBLATT-Redakteur David Pichler. Der Einsatz der NATO hätte verlängert werden müssen, zumindest als Stabilisierungsmission. Mit dem raschen Abzug der NATO wird unnötig das Leben verbündeter Kräfte gefährdet.

20 Jahre lang war die NATO nun in Afghanistan im Einsatz. Nach den grausamen Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York hatte sie den Militäreinsatz gegen die Drahtzieher der Anschläge beschlossen. Al-Quaida-Chef Osama bin Laden versteckte sich unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan, die Terrorzelle sollte vernichtet werden.

Nun, nach 20 Jahren Einsatz in Afghanistan, endet das Engagement in einem Desaster. Verstörende Bilder gehen um die Welt, es ist erschreckend und beängstigend zugleich, wie Menschenmassen in Todesangst versuchen, außer Landes zu kommen.

 „Es gibt nichts zu beschönigen: Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage (in Afghanistan) falsch eingeschätzt“, sagte Deutschlands Außenminister Maas (SPD) am Montag. Leere Worte, findet WOCHENBLATT-Redakteur David Pichler. 

Um das, was derzeit passiert, einschätzen zu können, muss man kein Geheimdienstmitarbeiter sein. Es war vorhersehbar, dass mit dem Abzug der NATO die Taliban schnell einen erneuten Eroberungszug starten und die Bevölkerung wieder terrorisieren würden. Von der Schnelligkeit des Vormarschs schienen dann aber doch alle Bündnispartner überrascht zu sein. „Bitter, dramatisch und furchtbar“ sieht auch Kanzlerin Merkel die Lage der Menschen in Afghanistan, die sich für eine freie Gesellschaft eingesetzt haben.

Deutschland, so heißt es, wolle nun neben Ortskräften der Bundeswehr und der Bundesregierung auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, der Entwicklungshilfe sowie Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen aufnehmen. Doch da Deutschland die Transportflugzeuge erst noch vorbereiten muss und schließlich der erste Militärflieger vom Typ A400M nur sieben Menschen ins Nachbarland Usbekistan retten konnte, scheint es mehr als fragwürdig, ob die Verbündeten tatsächlich auf schnelle Hilfe hoffen können. Doch genau das muss nun oberste Priorität haben: Allen Verbündeten müsste unbürokratisch und schnell geholfen werden. Nach Tagen von Planlosigkeit und Kompetenzgerangel scheint nun langsam systematisches Handeln erkennbar.

Doch auch um die, die bleiben müssen, sollten wir uns Sorgen machen. Die größten Verlierer werden besonders wieder die Mädchen und Frauen sein, die nun fürchten müssen, ihre Freiheit, ja, ihr Leben zu verlieren. Viele von ihnen werden sich noch mit großen Schrecken zurück erinnern. Denn egal, welche Versprechen die Taliban dieser Tage geben, ihr Wahrheitsgehalt muss doch sehr bezweifelt werden. Die westliche Welt hat in dieser Hinsicht versagt – wie schlimm, das wird die Zukunft zeigen. Das Vertrauen dieser Menschen in die NATO und ihre Bündnispartner dürfte jedenfalls in den Grundfesten erschüttert sein.

Doch nicht nur aus humanitärer Sicht, auch aus strategischer Sicht war der Abzug aus Afghanistan verheerend. Deutschlands Freiheit werde auch am Hindukusch verteidigt, das hatte der damalige SPD- Verteidigungsminister Peter Struck erklärt. Damit stellt sich auch die Frage, was der Fall Afghanistans zukünftig für Deutschland bedeuten kann.

Für China hingegen scheint die Entwicklung in Afghanistan positiv. Das Land sichert sich im Nahen Osten zunehmend mehr Einfluss. Nur wenige Stunden nach der Nachricht, dass der afghanische Präsident das Land verlassen habe, kündigte China an, „freundliche Beziehungen“ zu den Taliban und Afghanistan aufbauen zu wollen. Im Hinblick auf die von China neu geplante „Seidenstraße 2.0“ spielt der NATO-Abzug den Chinesen in die Hände.

Der Nahe Osten war schon immer eine instabile Region, doch in der jüngeren Geschichte trägt auch der Westen Mitschuld an der Situation. Außenminister Maas kündigte an, man wolle nun die Konsequenzen aus der Situation ziehen – doch welche Konsequenzen können das jetzt noch sein?

Natürlich müssen die Geschehnisse möglichst schnell, restlos und schonungslos aufgearbeitet werden. Doch nun sollte es einzig und alleine darum gehen, Menschen, die seit Jahren diese Mission unterstützten, vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren und sie in Sicherheit zu bringen, solange das irgend möglich ist. Das sind wir ihnen schuldig!

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