Kentler-Experiment: Wenn Ämter Kindesmissbrauch in Kauf nehmen

Das Kentler-Experiment: Wenn Pädophile auf einmal Pflegeväter werden. Von 1960 bis zum Beginn der 2000er leideten Kinder und Jugendliche darunter.
Das Kentler-Experiment: Wenn Pädophile auf einmal Pflegeväter werden. Von 1960 bis zum Beginn der 2000er leideten Kinder und Jugendliche darunter. (Bild: Pixabay)

Es ist eine der größten Skandale in der neueren Geschichte Deutschlands. Im Rahmen des „Kentler-Experiments“ wurden Kinder und Jugendliche aus sozial prekären Verhältnissen an pädophile Männer vermittelt – und das von Berliner Jugendämtern. Von 1960 bis zum Beginn der 2000er leideten zahlreiche Kinder und Jugendliche unter dem Experiment.

Es klingt wie ein Auszug aus einem kranken Film und doch war es die Realität. Der Berliner Sexualwissenschaftler Helmut Kentler war bis Mitte 1970 Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum in Berlin. 1960 begann er mit seinem „wissenschaftlichen Experiment“, Kinder und Jugendliche an vorbestrafte Pädophile Männer zu übergeben. Kentler war der Überzeugung, dass sich die pädophilen Pflegeväter besser um die Kinder kümmern würden, als andere Pflegeeltern.

Obwohl allen Bewusst war, dass die Pädophilen auch Sex von den Kindern und Jugendlichen verlangen könnten, stellte das für die „Forscher“ kein Hindernis dar. Wie mehrere Medien berichteten, bekamen die Pädophilen sogar Pflegegeld.

Wenn der Staat nur wegschaut

Verantwortlich fühlen wollte sich nach den ersten bekannt gewordenen Kindeswohlgefährdungen niemand, ganz im Gegenteil wurden die pädophilen Positionen „akzeptiert, gestützt und verteidigt“ heißt es in einem Bericht. Nicht zuletzt nahm auch der Erfinder von dem kranken Experiment, Helmut Kentler Einfluss auf die Entscheidungen und Funktionsträger.

„Das war Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung“, sagte Julia Schröder, Mitautorin eines Berichts, die mit der Aufarbeitung des Experiments vertraut ist. Hinter der Vermittlung an Pädophile Pflegeväter stand nicht nur Kentler, sondern ein ganzes Netzwerk, das sich durch pädagogische Einrichtungen – insbesondere der 1960er und 1970er Jahre – und die Senatsverwaltung bis hinein in Bezirksjugendämter zog.

Aufarbeitung und Entschädigungszahlungen

Seit 2016 ist Sandra Scheers (SPD) Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie. Das Experiment bezeichnete sie als „menschenverachtend“. Für die Opfer kündigte Scheer im Jahr 2020 Entschädigungszahlungen an, eine Kanzlei habe zu einigen Opfern Kontakt aufgenommen. Stellvertretend für die Stadt Berlin bat Scheer die Opfer um Verzeihung, „Berlin übernimmt die Verantwortung“ sagte sie.

Die Aufarbeitung müsse über Berlin hinausgehen. Die Berliner Strukturen wurden im Rahmen einer Studie zudem noch mal genau unter die Lupe genommen. Wissenschaftler die den Fall untersuchen sollten, sprachen zudem mit drei Opfern und analysierten zahlreiche Akten.

„Wir unterstützen nachdrücklich den Vorschlag, dass die Jugendministerkonferenz eine bundesweite Aufarbeitung zu Gewaltverhältnissen im Pflegekinderwesen und der Heimerziehung auf den Weg bringen muss, um die vorliegenden Hinweise auf ein weit verzweigtes Netzwerk weiter aufarbeiten zu können“ heißt es in einem Statement der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Helmut Kentler starb im Jahr 2008, für sein Experiment wurde er nie strafrechtlich verfolgt, da seine Taten als verjährt galten. Kentler war nach seinem Experiment Professor für Sozialpädagogik an der TU Hannover.