Keine «Fliege» entkommt: Putin erklärt Mariupol für erobert

Wladimir Putin und der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu, zeigen sich im Staatsfernsehen.
Wladimir Putin und der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu, zeigen sich im Staatsfernsehen. (Bild: -/Russian Presidential Press Service/AP/dpa)

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Die seit Wochen umkämpfte Hafenstadt Mariupol ist wohl gefallen. Russland erklärt sie für erobert, auch wenn die letzten ukrainischen Kämpfer noch nicht aufgeben. Ein eingekesseltes Stahlwerk gilt als letzte Bastion.

Mariupol/Moskau/Kiew (dpa) – Bequem im Sessel angelehnt lässt sich Kremlchef Wladimir Putin nach zwei Monaten Krieg in der Ukraine von Verteidigungsminister Sergej Schoigu den ersten «Erfolg» verkünden.

Die lange umkämpfte Hafenstadt Mariupol sei eingenommen und unter russischer Kontrolle, verkündet Schoigu bei dem im Staatsfernsehen gezeigten Treffen am Donnerstag. Seit dem 24. Februar, als Putin zum Angriff auf die Ukraine blies, warten viele seiner Unterstützer auf etwas, das wie ein Teilsieg aussehen könnte – vor allem nach dem weltweit beachteten Untergang des russischen Kriegsschiffs «Moskwa».

Dass der Kreuzer vor einer Woche wohl von zwei ukrainischen Raketen versenkt wurde, kratzt noch immer schwer am Stolz der Nation. Nun, eine Woche später, sieht Putin etwas verkrampft aus, als er von der «Befreiung Mariupols» spricht. Die Nachricht soll auch den Kampfgeist der Truppe beflügeln. Die Führung in Moskau hatte seit langem beklagt, dass gerade Mariupol das Zentrum nationalistischer ukrainischer Gruppierungen und eine damit eine große Gefahr für Russland sei.

Putin zeigt sich demonstrativ großzügig

Diese Bedrohung sieht Putin nun gebannt – und zeigt sich als Oberbefehlshaber erstmals seit Kriegsbeginn demonstrativ großzügig. Der 69-Jährige gibt den im Stahlwerk eingekesselten ukrainischen Kämpfern noch eine Chance. Sie sollten die Waffen strecken – und sich in russische Gefangenschaft begeben. «Die russische Seite garantiert Ihnen das Leben», betont Putin. Für die Ukraine dürfte dies auch ein Angebot sein, in Verhandlungen zu treten mit Russland um die Freilassung der in der Heimat gefeierten «Helden von Mariupol».

2500 Kämpfer sollen noch in den für einen Atomkrieg gebauten Katakomben des Stahlwerks ausharren. Die ukrainische Regierung in Kiew spricht zudem von 1000 Zivilisten, unter ihnen Frauen und Kinder – und von 500 verwundeten Soldaten, die dringend medizinische Hilfe bräuchten. Unklar blieb allerdings, wie die Menschen dort rauskommen sollen. Einfach gehen lassen will Putin die Kämpfer nicht. Er untersagte zwar dem Verteidigungsminister, das Werk zu erstürmen. Er ordnete aber zugleich an: «Blockiert diese Industriezone so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt». Die Eingeschlossenen gelten in den Gesprächen mit Kiew als wichtige Verhandlungsmasse.

Zehntausende Tote in Mariupol

In der Ukraine – und vor allem bei den aus Mariupol geflüchteten Menschen – machte sich indes Entsetzen breit. Von den einst 440.000 Einwohnern sollen in der Stadt am Asowschen Meer noch rund 100.000 Menschen ausharren, unter den Bedingungen einer humanitären Katastrophe. Mariupol sei weitgehend zerstört, es gebe Zehntausende Tote. Und Putin spreche einmal mehr von «Heldentaten» der russischen Armee, hieß es in Kommentaren in sozialen Netzwerken. Tatsächlich wies Putin auch an, die «Helden» auszuzeichnen.

Für die ukrainische Regierung ist der Verlust der letzten Stadt mit Zugang zum Asowschen Meer eine erwartete Niederlage. Kiew hatte Mariupol augenscheinlich bereits seit längerem aufgegeben. Rituell werden Mariupol und die verbliebenen Verteidiger zwar immer wieder als Helden erwähnt. Aber militärische Versuche einer Befreiung hat es nicht gegeben, zumal die nächsten ukrainischen Truppenkontingente etwa 80 Kilometer entfernt sind und selbst von den Einheiten der russischen Armee und der Separatisten bedrängt werden.

Selenskyj drängt weiter auf Waffenlieferungen

Präsident Wolodymyr Selenskyj lässt dennoch keine Gelegenheit aus, das Beispiel Mariupol auch dafür zu nutzen, um im Westen auf die Lieferung schwerer Waffen zu drängen, um nicht noch mehr Gebiete einzubüßen. Denn Putin hat immer wieder deutlich gemacht, dass er es aktuell vor allem auf den Donbass abgesehen hat. Die ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk sollen mit einer gerade begonnen Offensive vollständig der ukrainischen Kontrolle entrissen werden. Passend dazu zeigte das russische Staatsfernsehen Bilder vom Abzug einer Einheit aus Mariupol, die sich nun neuen Zielen widmen sollte.

Nicht zuletzt deshalb fordert Selenskyj dringend Panzer und Flugzeuge vom Westen, um die russischen Angriffe abzuwehren. Dass Mariupol nun verloren ist, dürfte ihm allerdings politisch kaum schaden. Er ist in seinem Widerstand gegen Russland populär wie nie zuvor. Gleichwohl trifft die erste große Niederlage das Land nach zwei Monaten Krieg schwer, auch wenn das öffentlich so nicht eingestanden wird.

Mariupol – Stadt mit aufgeladener Bedeutung

Mariupol hatte vor allem für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment «Asow» eine große symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von prorussischen Separatisten kontrollierte Hafenstadt. Die Separatisten feierten nun ihren späten, mit russischer Hilfe errungenen Sieg.

Sollten die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek formal eigenständig bleiben, dann haben sie mit Mariupol ungestörten Zugang auch zu den Weltmeeren. Sie könnten über den gut ausgebauten größten Hafen am Asowschen Meer ihre Produkte unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg selbst exportieren. Auf das noch von ukrainischen Kämpfern besetzte und weitgehend zerstörte Stahlwerk Azovstal sind sie aber nach eigenen Angaben für die Zukunft nicht mehr angewiesen.