Karl Lauterbach – vom Mahner zum Lockerer?

Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister, sitzt in seinem Stammcafe in Köln.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister, sitzt in seinem Stammcafe in Köln. (Bild: Oliver Berg/dpa)

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Karl Lauterbach war der große Warner der Corona-Pandemie. Als Bundesgesundheitsminister trägt er nun aber weitgehende Lockerungen mit. In seinem Stammcafé erläutert er seine Sicht der Dinge.

Köln (dpa) – So entspannt hat für Karl Lauterbach schon lange kein Tag mehr begonnen. In einem Café in Kölns Belgischem Viertel bestellt er sich einen Kaffee und ein kleines vegetarisches Frühstück.

Der 59-Jährige wohnt ganz in der Nähe und ist hier Stammgast. Wenn er abends an einem der kleinen Tische Platz nimmt, tun alle so, als würden sie ihn gar nicht bemerken. Dabei ist die hagere Gestalt mit den zerzausten Haaren natürlich unverkennbar.

«Er wird hier komplett in Ruhe gelassen», erzählt Wirtin Paulina. In letzter Zeit kommt er allerdings lang nicht mehr so regelmäßig wie früher. Auch die Tischtennisspiele mit seinem Freund Günter Wallraff in zehn Fahrradminuten Entfernung haben mittlerweile Seltenheitswert, wenngleich sie immer noch stattfinden.

Wechsel nach Berlin

Seit seiner Vereidigung zum Bundesgesundheitsminister im vergangenen Dezember lebt Lauterbach ganz überwiegend in Berlin, in einer gemeinsamen WG mit einer seiner Töchter. Er hat sich sehr gefreut, als damals der Anruf von Olaf Scholz kam, denn er wollte den Job. Er wollte mitgestalten, nicht nur das Corona-Management, sondern auch die Reform des Gesundheitswesens. Jetzt, vier Monate später, gesteht er der Deutschen Presse-Agentur: «Die Aufgabe ist viel härter, als ich mir das vorgestellt hatte. Zeitlich, aber auch was die Komplexität der Anforderungen angeht. Ich arbeite von morgens früh bis spät in die Nacht hinein, und dennoch würde ich mir wünschen, dass der Tag mehr Stunden hat. Es ist eine Belastung, wie ich sie mir in dem Umfang nicht vorgestellt habe.»

Kritiker halten ihm vor, er habe sich im Amt binnen weniger Monate vom Mahner und Warner zum Lockerer gewandelt – schließlich sind am Sonntag die meisten Schutzbestimmungen weggefallen. Wenn man Lauterbach darauf anspricht, ist sein Unbehagen geradezu greifbar. Verstellen kann er sich nicht. «Ich kenne den politischen Betrieb, ich bin seit 17 Jahren Berufspolitiker», sagt er dazu. «Und deshalb weiß ich, dass zum Wesen der Politik der Kompromiss gehört.»

Lauterbach wollte die allgemeine Maskenpflicht beibehalten, doch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hielt dies für rechtlich nicht mehr begründbar, weil eine nationale Überlastung des Gesundheitssystems nicht mehr zu befürchten sei. Und er setzte sich durch. Lauterbach konnte lediglich erreichen, dass den Ländern eine Möglichkeit für regionale Hotspot-Regelungen eröffnet wurde.

Weniger gefährliche Variante

Kann er verstehen, dass viele ihm jetzt vorwerfen, erst habe er sie jeden Tag zur Disziplin ermahnt und jetzt lasse er die Dinge einfach laufen? «Damit muss ich umgehen», sagt er nachdenklich in seinem typisch rheinischen Singsang, der von Parodisten so leicht imitiert werden kann. «Aber das hat eben den Hintergrund, dass wir jetzt eine weniger gefährliche Variante haben. Und dafür bin ich dankbar. Mir ist doch lieber, dass ich Lockerungen mittragen kann, weil sich die Lage verbessert hat, als dass ich drakonische Maßnahmen beschließen muss.» Dann fügt er allerdings noch hinzu: «Ich halte übrigens Omikron nicht für so harmlos wie viele andere. Es sterben derzeit zwischen 200 und 300 Menschen pro Tag, das ist weiterhin jeden Tag ein Flugzeugabsturz. Ich finde das beklemmend.»

Immerhin: Am Donnerstag könnte der Bundestag eine von Lauterbach ersehnte allgemeine Impfpflicht beschließen. «Das wird aus meiner Sicht ein Segen sein, denn das wird dann die Ausgangslage im kommenden Herbst, wenn sich die Lage wieder verschärfen könnte, grundsätzlich verbessern.» Allerdings könnte es darauf hinauslaufen, dass die Impfpflicht erst ab 50 Jahren gilt – und nicht ab 18, wie Lauterbach will.

Tempo der Veränderungen stärken

Kurz vor seinem Amtsantritt hat der Professor – der auf Twitter fast eine Million Follower hat – noch ein Buch abgeschlossen, für das er lange recherchiert hat. Es heißt «Bevor es zu spät ist – Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält». Ein Plädoyer dafür, insbesondere beim Klimaschutz das Tempo der Veränderungen massiv zu verstärken. Gewidmet hat er es seinen Töchtern Luzie (15) und Rosa-Lena (27), zwei seiner insgesamt fünf Kinder. «Sie stehen für die Generation, die mit den Schäden des Klimawandels in einer Art wird leben müssen, wie wir es uns gar nicht vorstellen können.»

Jetzt ist das Buch erschienen – aber geredet wird nicht übers Klima, sondern fast nur noch über den Ukraine-Krieg. Zurecht natürlich, wie Lauterbach betont: «Ich hatte mit einem solchen Krieg nicht gerechnet. Hätten Sie mich vor einem halben Jahr gefragt, hätte ich das für undenkbar gehalten. Es ist ein Rückfall in eine Zeit, die ich für überwunden gehalten habe. Hier werden Kinder geopfert, Unschuldige barbarisch getötet.»

Lauterbach glaubt jedoch, dass der furchtbare Krieg zumindest in einer Hinsicht etwas Gutes bewirken kann: «Plötzlich ist allen klar, wie schnell wir von Gas und Öl wegkommen müssen. Viel schneller als wir noch vor kurzem gedacht haben.» Und das ist dann wieder die Botschaft seines Buches: «Die Energiewende ist die wichtigste politische Langzeitentscheidung – neben der Wiederherstellung und Sicherung des Friedens und der Vorbeugung vor weiteren Pandemien.»

«Chronischer Außenseiter»

In seinem Buch verrät Lauterbach auch einige persönliche Details: Wie er in einer katholischen Arbeiterfamilie in Niederzier im Kreis Düren aufwuchs, auf der Grundschule gute Noten hatte, aber dennoch von den Lehrern auf eine Hauptschule geschickt wurde. Sein Freund, der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre, beschrieb ihn kürzlich in einer Fernsehdoku von Markus Feldenkirchen als chronischen Außenseiter, der durch die Pandemie ins Zentrum des Geschehens katapultiert worden sei: «Das ist ja wie so’n amerikanischer Spielfilm, wo irgendjemand durch einen Zufall, ein Imbissbetreiber, plötzlich amerikanischer Präsident wird.»

Lauterbachs Vater ist vor einigen Jahren gestorben, aber seine Mutter wohnt immer noch in dem kleinen Ort westlich von Köln. «Meine Schwester und ich haben sie während der Pandemie immer wieder besucht und dann bei Wind und Wetter, bei eisiger Kälte auf der Terrasse gesessen, als sie noch nicht geimpft war», erzählt er. Die 87-Jährige verfolgt seine immer noch zahlreichen Talkshow-Auftritte mit größter Aufmerksamkeit. «Sie ist sehr kritisch. Aber damit muss ich klarkommen.»

Das Handy klingelt, der nächste Termin ruft. Zum Abschied gibt es eine herzliche Umarmung für die Wirtin, die er seit langem kennt und mit der er sich duzt. Drei Personenschützer folgen ihm, als er raus auf die Straße geht. Seine Popularitätswerte sind zwar immer noch hoch, aber diejenigen, die ihn ablehnen, tun das häufig mit besonderer Inbrunst. Reizfigur Lauterbach. Jetzt allerdings regnet es, und niemand achtet auf ihn. Nur ein älterer, bärtiger Mann, der in der zweiten Etage am Fenster sitzt, hat ihn erkannt. Er lacht und macht dabei eine wegwerfende Handbewegung. Sie kann alles Mögliche bedeuten. Von «Der schon wieder» bis «Lasst ihn doch machen».