Invasion in die Ukraine: Russische Armee dringt nach Kiew vor

Invasion in die Ukraine: Russische Armee dringt nach Kiew vor
Auf diesem vom Pressedienst der ukrainischen Polizei veröffentlichten Foto löschen Feuerwehrleute die Schäden an einem Gebäude nach einem Raketenangriff auf Kiew. (Bild: Uncredited/Ukrainian Police Department Press Service/AP/dpa)

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Gebäude in Flammen, Tausende auf der Flucht: Der russische Angriff erschüttert die Ukraine, Präsident Selenskyj ordnet eine allgemeine Mobilmachung an: Die russische Armee ist schon in der Hauptstadt.

Kiew/Moskau (dpa) – Die russische Armee ist bei ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Das ukrainische Verteidigungsministerium meldete am Freitag russische «Saboteure» im nördlichen Stadtbezirk Obolon.

Außenminister Dmytro Kuleba berichtete zudem von «schrecklichen russischen Raketenangriffen» auf die Millionenstadt. Seit Beginn der großangelegten Invasion am Donnerstag wurden auf ukrainischer Seite nach offiziellen Angaben mehr als 130 Soldaten getötet.

Zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium der Agentur Tass zufolge mitgeteilt, russische Truppen hätten Kiew von Westen her blockiert. Der strategisch wichtige Flugplatz Hostomel nordwestlich von Kiew sei eingenommen worden. Dabei seien 200 Ukrainer «neutralisiert» worden. Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung. Zuletzt hatte die Führung in Kiew mitgeteilt, Angriffe auf Hostomel zurückgeschlagen zu haben. Dabei hätten die russischen Truppen schwere Verluste erlitten.

Den russischen Angaben zufolge blockieren russische Truppen zudem die Stadt Tschernihiw unweit der Grenze zu Belarus. «Zum jetzigen Zeitpunkt haben die Einheiten der Streitkräfte der Russischen Föderation die Blockade der Stadt Tschernihiw abgeschlossen», sagte der Sprecher des Verteidigungsministerium, Igor Konaschenkow. Er versicherte zudem, Russland werde keine Wohngebiete in Kiew angreifen. «Russische Soldaten unternehmen alle Maßnahmen, um Verluste in der Zivilbevölkerung zu verhindern.»

Nach ukrainischen Angaben sollen die russischen einrückenden Truppen 2800 Soldaten «verloren» haben. Das teilte das Verteidigungsministerium in Kiew am Freitagnachmittag mit. Dabei war unklar, ob es sich um getötete, verwundete oder gefangene Soldaten handeln soll. Außerdem seien schätzungsweise bis zu 80 Panzer, mehr als 500 weitere Militärfahrzeuge sowie 10 Flugzeuge und 7 Hubschrauber zerstört worden. Die Angaben können derzeit nicht unabhängig überprüft werden.

Putin an Ukrainer: «Nehmt die Macht in Eure Hände»

Russlands Präsident Wladimir Putin rief die ukrainische Armee derweil zum Kampf gegen die Regierung in Kiew auf. «Nehmt die Macht in Eure eigenen Hände! Es dürfte für uns leichter sein, uns mit Ihnen zu einigen, als mit dieser Bande von Drogenabhängigen und Neonazis, die sich in Kiew niedergelassen hat und das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen hat», sagte Putin am Freitag bei einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats in Moskau, die im Staatsfernsehen übertragen wurde.

Der Kreml behauptet seit Jahren, 2014 hätten aus dem Ausland gesteuerte «Faschisten» in Kiew einen Staatsstreich herbeigeführt. Putin lobte zugleich das Vorgehen der russischen Armee im Nachbarland. Der Einmarsch hatte am Donnerstagmorgen auf Anordnung des Kremlchefs begonnen. Er wolle den Soldaten und Offiziere «die höchste Anerkennung» aussprechen, sagte er. Sie handelten «mutig und professionell». Er erwähnte nicht die vielen russischen Todesopfer, die es laut ukrainischen Angaben bei den Kämpfen gegeben haben soll. Russland hat bislang keine Verluste in den eigenen Reihen gemeldet.

Aufruf: Molotow-Cocktails vorbereiten

Das Ministerium rief auf, sogenannte Molotow-Cocktails zum Kampf vorzubereiten und Sichtungen über russische Militärtechnik zu melden. Zuerst hieß es noch, Einwohner sollten ihre Wohnungen nicht verlassen. Das ukrainische Heer warnte, russische Einheiten nutzten teilweise eroberte ukrainische Technik.

Arestowytsch berichtete zudem über Versuche russischer Soldaten, von der 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim aus weiter in Richtung Norden ins Landesinnere vorzudringen. Am Stadtrand von Melitopol seien ukrainische Streitkräfte dabei, einen weiteren Vormarsch in Richtung der am Asowschen Meer gelegenen Hafenstadt Mariupol zu verhindern. In Cherson versuchten russische Truppen demnach, den Fluss Dnipro zu überqueren. Zur Lage in Charkiw im Osten unweit der russischen Grenze sagte Arestowytsch: «Charkiw hält durch».

Zuvor meldete die Ukraine Raketenbeschuss auf die Hauptstadt Kiew und schwere Gefechte nordwestlich der Stadt. Unter anderem wurde ein mehrstöckiges Wohnhaus getroffen, wie die Stadtverwaltung am Freitagmorgen mitteilte. «Schreckliche russische Raketenangriffe auf Kiew», twitterte Außenminister Dmytro Kuleba und zog eine Parallele zum Angriff durch Nazi-Deutschland 1941.

Der Minister zeigte sich trotz der massiven Angriffe demonstrativ optimistisch: «Die Ukraine hat dieses Übel besiegt und wird dieses besiegen.» Kuleba forderte erneut schärfere Sanktionen gegen Russland und Kremlchef Wladimir Putin: «Stoppt Putin. Isoliert Russland. Trennt alle Verbindungen. Schmeißt Russland aus allem raus.»

Explosionen und Feuer in Kiew

In Kiew wurde unter anderem ein mehrstöckiges Wohnhaus am Ostufer des Flusses Dnipro getroffen, in dem Feuer ausbrach. Dort seien Trümmer einer Rakete eingeschlagen, teilte die Stadtverwaltung auf Telegram mit. Drei Menschen seien verletzt worden. Dort sei es ukrainischen Kräften gelungen, einen russischen Flugapparat abzuschießen, schrieb ein Berater des ukrainischen Innenministers.

Bürgermeister Vitali Klitschko veröffentlichte im sozialen Netzwerk Telegram ein Video, das Brände in mehreren Etagen des Gebäudes zeigte. Feuerwehrleute waren vor Ort. Einer der Verletzten sei in einem kritischen Zustand, schrieb er.

In der strategisch wichtigen ukrainischen Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer wurden nach Angaben der Stadtverwaltung 17 große Hochhäuser durch Beschuss beschädigt. Die Stromversorgung sei teilweise ausgefallen, die Wasserversorgung funktioniere hingegen. 23 verletzte Einwohner der Stadt sowie 23 verletzte Soldaten seien in Kliniken aufgenommen worden. Am Donnerstag hatte Russland nach ukrainischen Angaben das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert.

Selenskyj: «Bleibe in der Hauptstadt»

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj organisiert nach eigenen Worten aus Kiew heraus den Widerstand gegen den Angriff russischer Truppen. «Ich bleibe in der Hauptstadt, bleibe bei meinem Volk», sagte er in der Nacht auf Freitag in einer Videobotschaft.

Am späten Donnerstagabend hatte Selenskyj eine allgemeine Mobilmachung angeordnet, die für 90 Tage gelten soll und die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vorsieht. Schon vorher hatte er eine Teilmobilmachung von Reservisten befohlen. «Wir müssen operativ die Armee und andere militärische Formationen auffüllen», begründete er seine Entscheidung. Bei den Territorialeinheiten werde es zudem Wehrübungen geben. Wie viele Männer betroffen sein werden, sagte der 44-Jährige nicht.

Nach ukrainischen Behördenangaben dürfen männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen. Man werde sie nicht über die Landesgrenze lassen, sagte der Leiter der ukrainischen Zollbehörde in Lemberg, Danil Menschikow. Er bat die Menschen, keine Panik zu verbreiten und nicht zu versuchen, eigenständig die Landesgrenze zu überqueren.

Botschaftsmitarbeiter nach Polen ausgereist

Die entsandten Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kiew sind nach Polen ausgereist. Die Botschaft in Kiew sei aber nicht komplett geschlossen, teilte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes am Freitag in Berlin mit. Es befänden sich auch weiterhin lokale Beschäftigte vor Ort. Nun würden verschiedene Optionen geprüft, wie und wo die Beschäftigten am besten und vor allem unter möglichst sicheren Bedingungen weiterarbeiten könnten. Neben der deutschen Botschaft in Kiew ist auch das Generalkonsulat Donezk in Dnipro wegen der Kämpfe vorübergehend geschlossen worden.