Nach mindestens 493 Jahren In diesem Jahr reiten in Weingarten erstmals auch Frauen auf dem Blutritt

Frauenpower bei der Blutreitergruppe Amtzell: (v.li.) Christina Schnell, Sabine Bottlinger, Lucy Bottlinger und Eileen Riedle. Es fehlen Luca und Emma Ochsenreiter.
Frauenpower bei der Blutreitergruppe Amtzell: (v.li.) Christina Schnell, Sabine Bottlinger, Lucy Bottlinger und Eileen Riedle. Es fehlen Luca und Emma Ochsenreiter. (Bild: privat)

Weingarten (le) – Der Blutritt hat jahrhundertealte Tradition. Eine Tradition, in der nur Männer erlaubt waren. Bis jetzt. Denn 2022 schwingen sich auch die Damen in den Sattel. Und begegnen den Herren damit erstmals auf Augenhöhe. Aber wollen sie das auch wirklich?

Beim Blutritt am Freitag, 27. Mai, dürfen dieses Jahr erstmals in der Geschichte Frauen mitreiten. In Frack und Zylinder werden sie Teil einer jahrhundertealten Männerdomäne. Für manche geht ein langgehegter Traum in Erfüllung, anderen würde nicht im Traum einfallen, mitzureiten. Zwei, die schon die Tage zählen, bis sie hoch zu Ross mit den Männern durch die Stadt reiten dürfen, sind Barbara Gölz aus Aulendorf und Christina Schnell aus Amtzell.

Für den letzten Schliff sorgen immer die Frauen

Die Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie am Blutfreitag, dem Tag nach Christi Himmelfahrt, gehört seit über 900 Jahren zum Stadtbild von Weingarten. Erstmals erwähnt wurde der Blutritt 1529. Doch schon damals stand als Zusatz dazu: „von alt her“. Deshalb kann man davon ausgehen, dass der Brauch schon sehr viele Jahre mehr in Weingarten gelebt wird. Frauen sah man bisher nie hoch zu Ross, nur im Reiterlager der einzelnen Blutreitergruppen. Hier sorgen sie für den letzten Schliff bei den glänzend gestriegelten Pferden und schauen, dass ihre Männer oder Reiterkollegen vornehm gekleidet auf dem Pferd sitzen. Jetzt dürfen sie selbst mitreiten und es steht eine Frage im Raum: Wollen die das überhaupt?

Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie – eine Ehre für jeden Reiter. In diesem Jahr auch für Reiterinnen.
Verehrung der Heilig-Blut-Reliquie – eine Ehre für jeden Reiter. In diesem Jahr auch für Reiterinnen. (Bild: picture alliance / dpa | Tobias Kleinschmidt)

Von Kind an eingeimpft: Der Blutritt ist nur für Männer

Wir haben uns umgehört und bekamen unterschiedliche Antworten. Hanna L., eine leidenschaftliche Reiterin aus dem Zocklerland, reitet mit Leib und Seele seit vielen Jahren beim Georgiritt in Limpach mit – in Turnierkleidung (weiße Hose und schwarzes Jackett). „Schon von Kind an sagte man uns Mädels, dass man beim Blutritt in Weingarten nicht mitreiten darf. Das ist nur was für den Vater, Bruder oder Opa. Basta! Jetzt, wo man uns endlich duldet, wollen wir nicht mehr.“ 

Glaubesbekenntnis statt Selbstdarstellung

Eine ältere Frau aus der Gegend von Bad Wurzach, deren Mann seit bald 30 Jahren mitreitet, fasst die Aufregung um die Frauen in Weingarten beim Blutritt in klaren Worten zusammen: „Das Thema erledigt sich in ein paar Jahren von ganz allein. Stundenlang betend auf dem Gaul zu sitzen ist nämlich kein Honigschlecken. Das ist keine Winke-Winke-Veranstaltung für Blondlöckchen, da steckt viel mehr dahinter. Der Glaube gehört hier an die erste Stelle.“

Wir sind nicht scharf drauf

Janine M. aus dem Biberacher Raum hat mit ihren Reiterfreundinnen lange diskutiert und die meisten kamen zu dem Entschluss: „Wir Frauen sind nicht scharf drauf, in Weingarten dabei zu sein. Wir reiten lieber nach wie vor bei den anderen Reiterwallfahrten in der Region mit, bei denen waren wir schon immer erwünscht. Sich dann noch in Frack und Zylinder zwängen – nein danke! Da bleiben wir lieber bei weißer Hose und schwarzem Jackett. Wir wollen ja auch keine Männer beim Frauenfrühstück dabeihaben, oder?“

Kindheitstraum geht in Erfüllung 

Ganz anders ist es bei Barbara Gölz. Die 54-Jährige hat jahrzehntelang ausgeharrt, bis in diesem Jahr nun endlich ihr Wunsch in Erfüllung geht: Am Blutfreitag auf dem eigenen Pferd durch Weingarten. Aber woher kommt dieses tiefe Verlangen? „Ich bin in Weingarten in einer Blutfreitagsfamilie aufgewachsen. Mein Vater ist schon als Ministrant bei der Reiterprozession mitgelaufen und hat dann später 25 Jahre lang die kleine Heilig-Blut-Glocke getragen. Für uns Kinder war es stets etwas Erhabenes, wenn wir an Christi Himmelfahrt mit dem Vater in die Sakristei der Basilika durften. Ganz behutsam entnahm er dort die Glocke und polierte sie auf Hochglanz – und wir waren die ersten, die es sehen durften. „Wenn ich dann am Freitag am Straßenrand stand und ehrfurchtsvoll zu den vielen Reitern hochsah, die im Einklang vorbeiritten, hatte ich nur einen Wunsch…“

Ein unerfüllter Wunsch – ein halbes Leben lang

Durften Sie denn als kleine Entschädigung als Kind wenigstens reiten? „Dieses Thema war bei uns leider tabu. Mein Vater ist als Kind von einem Arbeitspferd gefallen und hat sich geschworen, wenn er mal Kinder hat, dürfen die niemals reiten, weil ihm das als viel zu gefährlich erschien.“ Stattdessen erhielt die Tochter Musikunterricht auf mehreren Instrumenten. Das alles ist aber zum Glück lange her. Heute lebt Barbara in Aulendorf und der Wunsch schlummerte über Jahre tief und fest. Kurz vor ihrem 50. Geburtstag erfüllte sich die Pferdeliebhaberin dann ihren Kindheitstraum und nahm Reitunterricht. Ein paar Monate später ging mit dem Kauf der großen, ungarischen Warmblutstute Nikita der 2. Kindheitswunsch in Erfüllung.  

Am Blutfreitag geht für die gebürtige Weingärtlerin Barbara Gölz ein Kindheitstraum in Erfüllung.
Am Blutfreitag geht für die gebürtige Weingärtlerin Barbara Gölz ein Kindheitstraum in Erfüllung. (Bild: privat)

„Ich besuche jeden Tag mein Pferd“

„Natürlich bin ich auch schon öfters vom Pferd gefallen, steige aber immer wieder gerne auf – und das mindestens viermal in der Woche.“ Ihrem Vater gegenüber äußerte sie öfters, dass der Tag noch kommen wird, an dem Frauen am Blutritt teilnehmen dürfen. Kopfschüttelnd meinte er: „Das wird nie so weit kommen.“ Das Glück war auf Barbaras Seite.

In Frack und Zylinder durch die Heimatstadt

Als Blutreiterin mit Begleiter wird Barbara bei der Reiterprozession mit der Blutreitergruppe Aulendorf vertreten sein. Zwei Proberitte mit Musikkapelle hat sie bereits absolviert und alles hat zum Glück geklappt. Für Pferd Nikita ist es der 3. Blutritt. Und da jede Geschichte auch eine Pointe hat: „Den Frack samt Zylinder hat mein Vater mir an Ostern geschenkt – ein altes Erbstück.“

Frauenpower aus Amtzell

Bei der Blutreitergruppe Amtzell werden sich dieses Jahr zwei Frauen unter die Reiter mischen. Eine davon ist Christina Schnell. Die 44-Jährige ist mit Pferden aufgewachsen, hat einen eigenen Pferdebetrieb und solange sie denken kann, war es immer schon ein tiefer Wunsch, an der größten Reiterprozession Europas teilzunehmen. „Jahrelang bin ich als Musikantin bei unserer Musikkapelle mitgelaufen und das Verlangen, selbst als Reiterin an diesem besonderen Tag in Weingarten Gott ein Stück näher zu sein, hat nie aufgehört.“

Sicherheit geht vor: Ohne Zylinder, dafür mit Reiterhelm

Mit ihrem Sabiqi, einem 16 Jahre alten Ägypter, wird sie durch die Stadt und über Feld und Flur reiten. „Als beim Proberitt unsere Musikkapelle „Gott zur Ehr“ gespielt hat, haben sich mir vor Ehrfurcht schon die Haare aufgestellt…“ Sie und ihre Mitreiterin werden nicht die vorgeschriebenen und klassischen Zylinder, sondern schwarze Reithelme tragen. „Das wird für unseren Gruppenführer sicherlich einen Rüffel aus Weingarten geben, aber wir sind so frei und werden nicht auf diesen wichtigen Sicherheitsgegenstand verzichten.“ Der Sohn von Christina Schnell reitet ebenfalls mit – auch mit Reiterhelm.

Pferde sind nach wie vor Mangelware

 „Früher hatte die Blutreitergruppe Amtzell bis zu 30 Reiter, heute sind es mit uns zwei Frauen gerade mal noch 10 Personen. Ein Grund ist sicherlich der akute Pferdemangel. Viele Besitzer stellen ihre Pferde nicht sehr gerne für den Blutritt zur Verfügung – bei der ganzen Aufregung für die Vierbeiner.“ Das könnte also heißen, dass ihr Gruppenführer lieber den Rüffel wegen dem Helm in Kauf nimmt, dafür aber seine Reihen vollbekommen hat? Die Antwort ist ein verschmitztes Lächeln.

Verkehrshinweise zum Blutfreitag

In den Stunden vor und während des Blutritts am 27. Mai haben in Weingarten Reiter und Pferde absoluten Vorrang. Für den Autoverkehr bringt dies erhebliche Einschränkungen mit sich. Informationen dazu gibt es hier.