Humanitäre Krise: Putins Krieg vertreibt immer mehr Menschen aus der Ukraine

Humanitäre Krise: Putins Krieg vertreibt immer mehr Menschen aus der Ukraine
Ein aus der Ukraine geflüchteter Vater kümmert sich in einer ungarischen Notunterkunft um seine Tochter. (Bild: Marton Monus/dpa)

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Inzwischen haben 1,25 Millionen Menschen die Ukraine verlassen; die meisten retten sich nach Polen. Mit Blick auf die russische Kriegsführung rechnet ein Experte mit bis zu zehn Millionen Flüchtlingen.

Genf/Warschau/Prag/Tiszabecs/Berlin (dpa) – Die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten Menschen beläuft sich nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) inzwischen auf 1,25 Millionen.

Die Voraussetzungen für schnellen und unkomplizierten Schutz der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine sind nun auch formell getroffen. Nach der politischen Einigung der EU-Innenminister am Vortag nahmen die EU-Staaten den Beschluss einstimmig an, wie der Rat der EU-Staaten in Brüssel mitteilte. Damit sind die neuen Regeln unverzüglich in Kraft.

Die EU-Innenminister hatten sich in Erwartungen mehrerer Millionen Flüchtlinge wegen des russischen Kriegs in der Ukraine gestern darauf geeinigt, erstmals eine Richtlinie für den Fall eines «massenhaften Zustroms» von Vertriebenen in Kraft zu setzen.

Der Schutz gilt zunächst für ein Jahr, kann jedoch um insgesamt zwei weitere Jahre verlängert werden. Ein langwieriges Asylverfahren ist damit nicht nötig. Zudem haben die Schutzsuchenden unmittelbar unter anderem das Recht auf Sozialleistungen, Bildung, Unterkunft sowie auf eine Arbeitserlaubnis.

Warschau: «Nehmen alle auf, die das benötigen»

In Polen sind nach Angaben von Präsident Andrzej Duda seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine mehr als 700.000 Flüchtlinge aus dem Nachbarland angekommen. Es seien Staatsangehörige aus rund 170 Ländern der ganzen Welt darunter, sagte Duda bei einem Besuch am polnisch-ukrainischen Grenzübergang in Korczowa. «Wir nehmen alle auf, die das benötigen».

Ein Teil der Geflüchteten aus Drittländern habe von Polen aus bereits die Reise in die Heimat angetreten. Darunter sei beispielsweise eine größere Gruppe indischer Studenten gewesen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sei. Die indische Regierung habe einen Koordinator geschickt, der die Heimreise organisiert habe.

Duda sagte weiter, er schließe nicht aus, dass Polen wegen der wachsenden Zahl an Flüchtlingen demnächst auch andere Länder um Hilfe bitten werde. So habe Kanadas Regierungschef Justin Trudeau ihm bei einem Telefonat bereits zugesagt, dass sein Land Geflüchtete aufnehmen werde.

Mutmaßlichen russischen Spion festgenommen

Der polnische Geheimdienst hat in der Nähe der Grenze zur Ukraine einen mutmaßlichen russischen Spion festgenommen. Es handele sich um einen spanischen Staatsbürger russischer Herkunft, der für den russischen Militärdienst GRU tätig gewesen sein soll, teilte der Geheimdienst ABW mit.

Der Mann sei in der Nacht auf den 28. Februar in Przemysl nahe der polnisch-ukrainischen Grenze festgenommen worden. Er habe sich zuvor seit wenigen Tagen in der Region aufgehalten.

10.000 weitere Ukraine-Flüchtlinge in Berlin

Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) geht davon aus, dass im Laufe des freitags mindestens 8500 bis 10.000 weitere Ukraine-Flüchtlinge in der Hauptstadt eintreffen. Das sagte sie am Nachmittag bei einer Online-Klausurtagung der Linken-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Damit würde sich die steigende Tendenz der vergangenen Tage weiter fortsetzen: Am Donnerstag seien mindestens 6000 Geflüchtete mit Zügen in der Hauptstadt eingetroffen, so Kipping. Weitere seien mit Bussen oder Autos gekommen.

Kipping zufolge reisen viele der Geflüchteten in andere Regionen weiter. Nach den bisherigen Erfahrungen müssten etwa ein Drittel der Ankömmlinge, die in Berlin bleiben, durch den Senat untergebracht werden. Die übrigen kämen hier privat unter.

Giffey: Brauchen bundesweite Verteilung der Geflüchteten

Sachsen will das Land Berlin bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine unterstützen. Zunächst sei die Übernahme von einhundert Menschen vereinbart, informierte ein Sprecher der Landesdirektion am Freitag auf Anfrage.

Zuvor hatte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) erneut ein enges Zusammenwirken von Bund und Ländern mit Blick auf die Flüchtlinge gefordert. «Viele kommen in Berlin an, aber wir brauchen eine bundesweite Verteilung der Geflüchteten, um das bewältigen zu können», schrieb sie auf ihrer Facebook-Seite.

Mehr als 50.000 Flüchtlinge in Tschechien

In Tschechien sind bereits mehr als 50.000 Flüchtlinge aus der Ex-Sowjetrepublik eingetroffen. Das sagte Innenminister Vit Rakusan nach einer Sitzung des zentralen Krisenstabs in Prag. Es handele sich fast ausschließlich um Mütter mit Kindern und ältere Menschen, da Männer im wehrpflichtigen Alter die Ukraine nicht verlassen dürften. Heute trat in Tschechien der nationale Notstand in Kraft, um die Flüchtlingshilfe besser koordinieren zu können.

Bis zum Mittag sind knapp 145.000 Menschen aus dem östlichen Nachbarland in Ungarn eingetroffen. Zugleich weist die Fluchtbewegung aus der Ukraine vorerst eine abnehmende Tendenz auf, wie aus den Zahlen hervorgeht, die die ungarische Polizei veröffentlichte.

Bisher rund 2700 ukrainische Flüchtlinge in Griechenland

In Griechenland sin 2704 ukrainische Flüchtlinge eingetroffen. Das Ministerium für Bürgerschutz zählte heute 515 Neuankünfte binnen 24 Stunden, wie die Behörde mitteilte. «Wir arbeiten eng mit der Botschaft der Ukraine zusammen und unterstützen alle ukrainischen Bürger, die kommen», sagte Bürgerschutzminister Takis Theodorakis am Donnerstabend dem Sender Open TV.

In Griechenland leben bereits zahlreiche Ukrainer. Viele der bisherigen Flüchtlinge können daher wohl zunächst bei Verwandten unterkommen. An der Grenze zu Bulgarien gibt es zudem ein Auffanglager – dort sind jedoch bislang kaum Menschen eingetroffen.

Niederlande bereiten Aufnahme von 50.000 Flüchtlingen vor

Die Niederlande wollen nach Medienberichten Unterkünfte für insgesamt rund 50.000 Flüchtlinge aus der Ukraine bereitstellen. Die Regierung forderte am Freitag alle 25 Sicherheitsregionen des Landes auf, innerhalb von zwei Wochen zunächst jeweils 1000 Schlafplätze zur Verfügung zu stellen, wie der TV-Sender NOS berichtete. Weitere 25.000 sollen folgen.

Zehn Millionen Flüchtlinge möglich

In der Zukunft muss Europa sich nach Meinung des Migrationsforschers Gerald Knaus auf zehn Millionen Flüchtlinge einstellen.

«Putins Kriegsführung in Tschetschenien hat dazu geführt, dass ein Viertel der Tschetschenen vertrieben worden sind. Darauf müssen wir uns einstellen», nannte Knaus dem Redaktionsnetzwerk Deutschland eine Vergleichszahl. «Ein Viertel der Ukrainer entspräche zehn Millionen Menschen.» Bei der aktuellen Dynamik des Krieges sei dies durchaus möglich.

Bei einem Blick auf die Kriegsführung der Russen kann man Knaus zufolge Vorstellungen von Flüchtlingszahlen erhalten. «In einer Woche haben schon so viele Menschen die EU erreicht wie im gesamten Bosnienkrieg», so der Migrationsforscher. «Diese Geschwindigkeit zeigt, dass wir in Europa vor der schnellsten und größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg stehen.»