Heilsbringer oder Millionengrab? Das 9-Euro-Ticket: Wohin steuert die Deutsche Bahn?

Das 9-Euro-Ticket: Wohin steuert die Deutsche Bahn?
Seitdem man das 9-Euro-Ticket kaufen kann, bilden sich große Menschentrauben an den Bahnhöfen. Foto: picture alliance / pressefoto_korb | Micha Korb

Für 9 Euro von Biberach nach Sylt. Das 9 Euro Ticket verspricht grenzenlose Reisefreiheit. Zumindest deutschlandweit und bis Ende August. Doch Berichte von überfüllten Zügen und fehlenden Anschlüssen trüben die Urlaubsfreude. Was kann es denn jetzt wirklich, das Günstig-Ticket der Bahn? Wo sind die Schwachstellen, was sind die Vorteile?

Seit Anfang Juni gilt das 9-Euro-Ticket in Bussen, U-Bahnen und in den Regionalzügen in ganz Deutschland. Bis Ende soll man so günstig mit der Bahn reisen wie selten zuvor. Ein verlockendes Angebot, gerade in Anbetracht der explodierenden Benzinpreise. Doch Berichte von Reisenden geben bisher wenig Anlass zur Euphorie. Das Verkehrsunternehmen Go-Ahead beklagt die schlechte Infrastruktur im Streckennetz der DB AG und fordert einschneidende Verbesserungen.

Anreiz zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel


Das 9-Euro-Ticket gilt als ein Teil des Entlastungspaketes für die Bundesbürger. Die Koalitionsregierung hat es auf den Weg gebracht, um die Bürger einerseits zu entlasten, andererseits um sie zu einer verstärkten Nutzung des ÖPNV anzuregen.

Ein Kassenschlager ist das Ticket auf jeden Fall. Konkrete Verkaufszahlen gibt es allerdings noch nicht. Insider schätzen, dass rund 80 % aller ÖPNV-Nutzer mit dem günstigen Ticket unterwegs sind. Die Mehrzahl davon werden wohl Tagesausflügler sein. Das hat sich wegen der Pfingstferien natürlich noch erhöht. Dieser Effekt ist jedes Jahr spürbar. Letztlich stellt sich die Frage, ob diese Reisenden ansonsten das Auto genutzt hätten, um an ihr Ziel zu kommen.

Das Auto öfter mal stehen lassen: Dafür soll das 9-Euro-Ticket sorgen.
Foto: picture alliance / ROPI | Antonio Pisacreta

Deutsche Bahn in der Krise, Milliarden vom Bund


Immerhin rund 2,5 Milliarden Euro lässt sich der Bund das Vergnügen kosten.Es handelt sich dabei um Steuergelder. Ein „Spaß“, den sich die Deutsche Bahn nie und nimmer leisten könnte, denn sie ist faktisch pleite. Am Leben erhalten nur, durch entsprechend hohe, Finanzspritzen des Bundes.

Die Deutsche Bahn befindet sich seit Jahren in ihrer schwersten Krise. Alleine 2020 ist das Defizit bei der DB auf über 5,7 Milliarden Euro gestiegen. Insgesamt steht das Unternehmen mit rund 30 Milliarden Euro in der Kreide. Richtig ist, dass Corona die Negativentwicklung angetrieben hat. Das ist aber nur ein Aspekt. Es fehlt grundsätzlich an Material und vor allem an qualifiziertem Personal, aber auch an einer belastbaren, funktionierenden Infrastruktur. Um sich auf einen Börsengang vorzubereiten, hat sich die Bahn vor 14 Jahren sozusagen „kaputtgespart“.

Am 1. Juni musste Bahn-Chef Richard Lutz öffentlich eingestehen: „Wir stehen vor einer Zäsur, so wie bisher geht es nicht weiter“.

Ausbau des Schienennetztes geplant


Auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat das wohl erkannt. Er will das Desaster bei der Bahn nicht länger hinnehmen und verschreibt dem Unternehmen eine „Radikalkur“. Man solle, so Wissing, künftig die Uhr wieder nach der Bahn stellen können und plant bis 2030 ein sogenanntes „Hochleistungsnetz“. Bis es soweit ist, müssen sich die Bahnkunden auf neue Belastungen und Störungen wegen der zu erwartenden Großbaustellen im Schienennetz einstellen.

Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) fährt mit dem 9 Euro Ticket.
Foto: picture alliance/dpa | Britta Pedersen

Viele Streckenabschnitte werden heute schon deutlich über der Belastungsgrenze genutzt. Dabei sind nach wie vor große Teile des Schienennetzes gar nicht elektrifiziert. Vom „Dieselloch“ ist insbesondere in Süddeutschland oftmals die Rede.

Ob die „neue Bahn“ dann überhaupt den Weg in den Süden der Republik finden wird, darf man sich sehr wohl fragen. Vollmundige Ankündigungen auf mehr Bahnhalte, allein auf der Strecke zwischen Lindau und Hergatz, sind längst der Realität gewichen. Die Verantwortlich rudern zurück und machen gestiegene Kosten dafür verantwortlich. Auf unbestimmte Zeit verschoben!

Strecken für Dieselloks statt Elektrozüge


Nicht besser sieht es auf der Baden-Württembergischen Seite aus. Die Bahnstrecke von Friedrichshafen nach Radolfzell befindet sich in einem maroden Zustand. Zudem können hier nur Dieselloks fahren. Ein Umsteigen in Friedrichshafen ist unvermeidbar. Einer Aufnahme in den Bundesverkehrswegplan stellt sich der Bund entgegen: „eine eher unbedeutende Regionalbahn“. Das müsse quasi vor Ort finanziert werden. Wann sich da etwas bewegen wird, steht in den Sternen, zu sehr streiten sich alle Beteiligten ums liebe Geld. Längst vorbei sind die Zeiten, als man sich am Lindauer Inselbahnhof in den Zug setzen und sich bequem bis nach Basel schaukeln lassen konnte. Und das ohne Umsteigen zu müssen!

Die umweltfreundliche und auch touristisch höchst attraktive Idee von einer Bodenseegürtelbahn, die es ermöglichen würde, den ganzen See in beide Richtungen jeweils im Halbstundentakt um am besten mit nur einem Ticket umrunden zu können, dürfte auf unabsehbare Zeit ein Traum bleiben – und das auch ohne 9-Euro-Ticket.

Fahrgäste warten am Lindauer Bahnhof auf ihren Zug.
Foto: Wilfried Vögel

9-Euro-Ticket nur bis Ende August

So wird das nichts mit der Verkehrswende! Wenn man der Politik Glauben schenkt, ist der Spuk mit dem Billig-Ticket Ende August sowieso schon wieder vorbei. Was bleibt, sind die Horrorgeschichten von überfüllten Zügen, verpassten Anschlüssen und massiven Verspätungen. Und Chaos in den Zügen.

Es fehlt der Politik offenbar am erklärten Willen, das Bahnzeitalter endlich in eine neue Ära zu führen. Wie man es in Österreich oder noch besser in der Schweiz längst erleben kann. Markige Veränderungsankündigungen zum Besseren hat man schon von Wissings Vorgänger Andreas Scheuer gehört. Passiert ist so gut wie nichts.

Reisende berichten von überfüllten Zügen


Befragt man die Nutzer des 9-Euro-Tickets, so eine Lindauerin, deren Namen nicht genannt werden soll, erfährt man, wie sich das stark verbilligte Ticket im Alltag auswirkt. Sie hatte eine Fahrt zusammen mit ihrer Tochter von Lindau nach Ulm gemacht. Eingestiegen ist sie praktischerweise wohnortnah am Bahnhof Lindau-Reutin. Der Zug war da schon voll, übervoll, wie sie berichtet. Viele fanden keinen Sitzplatz. Familien mit Kindern mussten auf den Gängen stehen. Dazu kamen jede Menge Radler, die die Durchgänge versperrten. Dann eine Überraschung: Der Zug fuhr erstmal zum Inselbahnhof, wo er eine Viertelstunde Aufenthalt hatte, ehe es dann endlich Richtung Ulm weiterging.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Die Klimaanlage zeigte offenbar keine Wirkung. Überall schwitzende Menschen. Eine Toilette war defekt. Überall drangvolle Enge. Ihr Fazit: So macht Bahnfahren überhaupt keinen Spaß

Immer wieder dringen beunruhigende Nachrichten an die Öffentlichkeit. Von restlos überfüllten Zügen, die von der Polizei geräumt werden mussten. Von Rangeleien unter den Fahrgästen, von völlig überfordertem Personal am Rande der Belastungsgrenze. Von zwei aneinander gespannten Zugtraktionen, von denen nur eine benutzbar war. Die Begründung: In den letzten Jahren seien aus Einsparungsgründen an vielen Bahnhöfen die Bahnsteige verkürzt worden. Ein gefahrloser Ein- und vor allem Ausstieg könne nicht gewährleistet werden, deshalb habe man die entsprechenden Zugteile versperrt.

Dichtes Gedränge herrscht in einem Nahverkehrszug.
Foto: picture alliance / imageBROKER | Stefan Ziese

Bahn war scheinbar nicht auf das 9-Euro-Ticket vorbereitet


Die Bahnen waren auf das 9-Euro-Ticket offenbar weder organisatorisch, noch technisch, noch personell auch nur ansatzweise vorbereitet. Das Chaos war vorprogrammiert.

Das Eisenbahnunternehmen Go-Ahead, das diverse Strecken in Bayern und Baden-Württemberg betreibt, schreibt in einer Pressemitteilung: „Viele Strecken in ganz Süddeutschland sind derzeitig sehr unzuverlässig, weil es eine Vielzahl von Einschränkungen im Bahnnetz gibt. Die Bundesrepublik Deutschland investiert seit Jahrzehnten zu wenig in ihr Eisenbahnnetz. Das ist nicht bei jeder einzelnen Baustelle die Ursache, aber in der der übergroßen Mehrzahl der Situationen doch. Daher muss dringend mehr investiert sowie viel vorausschauender gebaut werden“, so Fabian Amini, Geschäftsführer der Go-Ahead Gesellschaften in Deutschland. Und weiter: „Wir entschuldigen uns bei unseren Fahrgästen für die Verspätungen und Zugausfälle. Die Probleme an der Infrastruktur können wir nicht beseitigten. In Gesprächen mit der DB Netz versuchen wir, die Auswirkungen für die Fahrgäste zu verringern“.

42 Stunden Verspätung pro Woche


Go-Ahead verzeichnet gerade zahlreiche Baustellen und Einschränkungen auf den Strecken der DB, die einen pünktlichen Betrieb unmöglich machten. So seien seit einiger Zeit auf der Strecke von Lindau ins Allgäu auf dem rund zehn Kilometer langen Streckenabschnitt zwischen Lindau-Aeschach und Weißensberg von zwei Gleisen nur eines befahrbar. Nach Aussage der DB sei etwas am Gleis defekt. Es werde Wochen dauern, bis das Problem behoben sei. Fabian Amini weiter:„Auch in Baden-Württemberg haben die Infrastrukturstörungen in den Juni-Wochen dramatisch zugenommen, die sich in Zugverspätungen und Zugausfällen bemerkbar machen. So wie bei anderen Bahnbetreibern auch, sind auch bei Go-Ahead die Pünktlichkeitswerte dramatisch abgerutscht. Unsere Fahrgäste mussten in der Kalenderwoche 24 allein bei Go-Ahead in Württemberg pro Wochentag mindestens 42 Stunden an Zugverspätungen verkraften, die wir nicht selbst verursacht haben“.

Gründe für diese Verspätungsursachen seien Infrastrukturmängel durch verschiedene Langsamfahrstrecken, Fahrbahnstörungen, Streckensperrungen, Auswirkungen durch Baustellen, Stellwerksstörungen sowie die üblichen Weichen-, Signal- und Bahnübergangsstörungen“.

Amini hofft, dass die DB Netz diese Schwierigkeiten in den Griff bekomme. Darüber hinaus müssten die Infrakstrukturgesellschaften der DB AG dringend auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden. Es sei höchste Zeit, dass die Bundesregierung dieses Vorhaben aus ihrer eigenen Koalitionsvereinbarung realisiere.

Der Ansturm auf die Bahnen wird bis Ende August anhalten, denn da haben ja viele Ferien und wollen die Angebote mit dem 9-Euro-Ticket nutzen. Am besten mit der gesamten Familie und natürlich mit den Fahrrädern. Ob das eine gute Idee ist, muss jeder für sich selbst beantworten. Und ob danach Preiserhöhungen bei der Bahn folgen, wird sich zeigen.

Über 700 Schienenkilometer hat die Go-Ahead GmbH in Baden-Württemberg.
Foto: Wilfried Vögel


Über Go-Ahead

Die Go-Ahead Baden-Württemberg GmbH betreibt seit 2019 von Stuttgart aus fünf regionale Schienenstrecken mit über 700 Streckenkilometern. Das Unternehmen mit Sitz in Stuttgart wurde im Februar 2017 als Betriebsgesellschaft der Go-Ahead Verkehrsgesellschaft Deutschland GmbH gegründet.

Die Go-Ahead Bayern GmbH wurde im Februar 2019 als Tochterunternehmen der Go-Ahead Verkehrsgesellschaft Deutschland GmbH gegründet. Das Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz in Augsburg betreibt derzeit die Strecke München – Memmingen – Lindau.

Die Go-Ahead Verkehrsgesellschaft Deutschland GmbH ist eine Tochter des britischen Unternehmens Go-Ahead, einem der führenden Anbieter von öffentlichem Nahverkehr mit Bus und Bahn. Nachhaltigkeit und Sicherheit sind zentrale Unternehmenswerte, die in der täglichen Arbeit gelebt werden.