Als im Winter 1962/63 das „große Eis“ an den Bodensee kam Bodensee komplett zugefroren: So war die Seegfrörne

Im Januar 2017 reichte es immerhin für ein bisschen Eis in der Hafeneinfahrt von Lindau. Doch komplett zugefroren war der See zuletzt 1963.
Im Januar 2017 reichte es immerhin für ein bisschen Eis in der Hafeneinfahrt von Lindau. Doch komplett zugefroren war der See zuletzt 1963. Foto: picture alliance / imageBROKER | W. Wirth

Im Winter vor genau 60 Jahren fror der Bodensee komplett zu. Um dieses Ereignis gibt es zahlreiche Geschichten. Welche wahr sind und wie sich das alles angefühlt hat, damals im Winter 62/63, berichte ich hier.

Was in zwei Jahrtausenden im Schnitt nur zehn Mal passiert ist, hat sich im Winter 1962/63, also vor exakt 60 Jahren zugetragen: Der Bodensee ist komplett zu gefroren. Der Winter war damals gar nicht so sehr durch eine extreme Kälte gekennzeichnet, vielmehr durch eine lang anhaltende, durchgehende Frostperiode, die sich beinahe gleichzeitig über Europa, Nordamerika und Ostasien erstreckte. Dass Millionen von Kubikmeter Wasser zu Eis erstarren können, kann sich heutzutage niemand mehr vorstellen. Die Wahrscheinlichkeit einer vollständigen „Seegfrörne“ ist derzeit angesichts des Klimawandels kaum mehr vorstellbar. Glücklicherweise wurde das Spektakel fotografisch festgehalten. Wie zum Beispiel hier.

Meine Erinnerungen an die Seegfröne

Dass die gigantische Wasserfläche von 540 Quadratkilometern zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz komplett zufriert, kommt statistisch nur alle 100 Jahre vor. Die letzte vor 1963 war im Jahr 1880. Schon damals galt eine Querung zu Fuß als höchst gefährlich. Die Eisdecke war unberechenbar.

Wer sich, wie ich als damals Zehnjähriger, im Sommer 1962 im Strandbad Eichwald im warmen Bodenseewasser tummelte, konnte sich natürlich niemals vorstellen, dass sich wenige Monate später der gesamte Bodensee im darauffolgenden Winter unter einen dicken Eisschicht präsentieren würde.

Kalte Oktober-, November- und Dezembertage als Voraussetzung

Angefangen hatte alles mit einem schon ziemlichen kalten Oktober und November 1962. In der Folge sanken die Temperaturen immer weiter. Bereits im Oktober wurden 4 Grad minus gemessen, der November brachte minus acht Grad, der Dezember 14 Grad unter null. Der See fror nach und nach immer mehr zu. Erst entlang der Uferzonen, dann der gesamte Untersee, dann, Ende Januar 1963, bildete sich auf dem gesamten See eine durchgängige Eisfläche. Sie war allerdings nicht gleichmäßig dick und homogen. Wind und Wellengang bildeten Verwerfungen, manchmal waren diese sogar meterhoch.

Erste Mutige wagten sich aufs Eis

Erst wagten sich nur wenige Mutige (oder Lebensmüde) aufs Eis und es kam auch immer wieder zu schlimmen Unfällen. Mancher musste dabei sogar sein Leben lassen.

Bald aber war die Eisdecke so tragfähig, dass sich Tausende aufs Eis wagten. Es entstanden regelrecht Wegverbindungen auf dem Eis. Der See verlor seine trennende Wirkung. Er wurde zu einem echten Bindeglied zwischen den Ländern und Menschen. Es folgte die längste „Seegfrörne“ seit Menschengedenken.

Der Hagnauer August Knoblauch überquerte im Winter 1963 als einer der ersten Waghalsigen den zugefrorenen Bodensee. Foto: Felix Kästle/dpa
Der Hagnauer August Knoblauch überquerte im Winter 1963 als einer der ersten Waghalsigen den zugefrorenen Bodensee.
Foto: Felix Kästle/dpa

Autos, Fahrräder und Segelschlitten auf dem Eis

Fröhliche Menschen bewegten sich auf der riesigen Eismenge. Der Schiffs- und Fährverkehr musste komplett eingestellt werden. Schlittschuhläufer, aber auch Menschen mit selbstgebauten, abenteuerlichen Fahrzeugen wie Kufen-Fahrrädern, Motor- und Segelschlitten, aber natürlich in erster Linie Spaziergänger vergnügten sich auf dem schier ewigen Eis. Mancherorts wagten sich auch Autofahrer aufs Eis.

Selbst Flugzeuge landeten auf dem Eis

Ich erinnere mich, dass der legendäre Luftbildphotograph Franz Thorbecke mit seiner einmotorigen Maschine auf dem Eis vor Lindau landete. In improvisierten Marktbuden versorgten sich die Schaulustigen mit warmen Würstchen und Getränken – ein unbeschreibliches Schauspiel!

Mein Vater, ein Zöllner, berichtete uns Kindern von den Besprechungen mit den österreichischen und schweizerischen Kollegen, wie man das Verhalten der Grenzgänger in den Griff bekommen könne. Zur Erinnerung: Damals gab es noch feste Grenzen und Zollkontrollen, um beispielweise den Schmuggel, insbesondere mit Kaffee und Zigaretten, zu unterbinden.

Kaffee- und Zigarettenschmuggel florierten

Das Fazit der Zöllner: Kontrollen waren auf der riesigen Eisfläche und der Vielzahl an Besuchern völlig unmöglich. Folglich konnten die „Grenzer“ dem Treiben nur tatenlos zusehen.

Wir, damals brave Fünftklässler in der Schule Reutin, machten mit unserer Klassenlehrerin Erika Huber einen Ausflug auf die Insel um das Spektakel aus der Nähe zu betrachten. Ich erinnere mich noch an ihre Worte damals: „Wer weiß, ob ihr so etwas in Eurem Leben noch einmal zu sehen bekommen werdet“. Wie recht sie doch damals hatte.

Volksfeste und sogar Prozessionen fanden auf dem Eis statt

Das Jahrhundertereignis wurde mit zahlreichen Volksfesten, Fasnachtsfeiern und sogar Prozessionen gebührend gefeiert. Das große Ereignis war der Gang der Eisprozession von Hagnau nach Münsterlingen. Damit wurde das jahrhundertealte Gelöbnis der Vorfahren erfüllt. Glockengeläute, Böllerschüsse und Musikkapellen begleiteten die Prozession. Der getragene Evangelist Johannes fand so in der Klosterkirche von Münsterlingen seine vorläufige, wohl jahrhundertelange, vermutlich sogar ewige Ruhe. Das bezeugt auch ein Bild des Rosengartenmuseums auf Instagram.

Eismeister waren gefragte Menschen

Ein wichtiger Mann war damals der Eismeister, einer der meist gefragten Männer in diesem harten Winter. Immer wieder mussten die Eismeister der Gemeinden und Wasserämter um den See die Frage beantworten: „Wie dick ist das Eis, hält es noch?“. An einigen Stellen betrug die Eisdecke fast 30 cm. Aber diese variierte im Tagesverlauf ständig. Das Eis kühlte in der Nacht ab dehnte sich bei Sonneneinstrahlung wieder aus. So entstanden gefährliche Eis-Risse.

Pioniere der Bundeswehr mussten nicht selten ausrücken, um gefährliche Schichtungen zu sprengen.

Immer wieder brachen Menschen trotz der Kälte ins Eis ein. Und nicht in allen Fällen ging es glimpflich ab. Einige erfroren, weil sie auf der gigantischen Eisfläche bei aufziehendem Nebel die Orientierung verloren.

Besonders die Tiere litten große Not

Die Tiere mussten besonders leiden. Viele erfroren. Es gab kein eisfreies Ufergelände mehr, die Nahrungssuche war meist erfolglos. Um den See gab es eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft. Überall wurden die Wasservögel gefüttert. Im Eis gefangene Schwäne und Enten mussten befreit werden. Viele Tiere flogen in ihrer Not übers Land in der Hoffnung, dort Nahrung zu finden. Tausende von Tieren überlebten die Seegfrörne nicht.

Im März 1963 ging die Seegfrörne zu Ende

Anfang März fiel die Temperatur nicht mehr unter den Gefrierpunkt. Täglich stieg die Temperatur an, die längste Seegfrörne der Geschichte ging zu Ende. Das Eis schmolz dahin. Die Fährverbindungen konnten wieder aufgenommen werden. Das Betreten der noch vorhandenen Eisflächen wurde vielerorts verboten.

Trotzdem hat sie bis zu ihrem offiziellen Abschluss Mitte März offiziell vier Todesopfer und unzählige Verletzte gefordert.

Ein Aluminiumschild erinnert am Bodenseeufer von Fischbach an die Seegfrörne im Jahr 1963. Am 12.02.1963 war der Fischbacher Georg Stärr auf seinem Pferd von Hagnau aus über den zugefrorenen Bodensee nach Münsterlingen in der Schweiz geritten. Stärr gilt seit dem als der "Reiter über den Bodensee" Foto: Felix Kästle/dpa
Ein Aluminiumschild erinnert am Bodenseeufer von Fischbach an die Seegfrörne im Jahr 1963. Am 12.02.1963 war der Fischbacher Georg Stärr auf seinem Pferd von Hagnau aus über den zugefrorenen Bodensee nach Münsterlingen in der Schweiz geritten. Stärr gilt seit dem als der „Reiter über den Bodensee“ Foto: Felix Kästle/dpa

Eine Wiederholung ist nicht mehr zu erwarten

Am 17. März 1963 wurde die Seegrförne von den Behörden für beendet erklärt. Das Jahrhundertereignis war Geschichte. Ob die heute Lebenden noch einmal ein solches Naturschauspiel erleben werden, ist angesichts steigender Temperaturen, ausgelöst durch den immer weiter fortschreitenden Klimawandel, mehr als fraglich.

Wer trotzdem Lust aufs Eislaufen hat, kann das gern hier machen.