Besuch im Kriegsgebiet: Drei mutige Regierungschefs im Zug nach Kiew

Im Zug nach Kiew: die Ministerpräsidenten von Slowenien, Janez Jansa (l), Polen, Mateusz Morawiecki (2.v.l.), und Tschechien, Petr Fiala (r), sowie der polnische Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski.
Im Zug nach Kiew: die Ministerpräsidenten von Slowenien, Janez Jansa (l), Polen, Mateusz Morawiecki (2.v.l.), und Tschechien, Petr Fiala (r), sowie der polnische Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski. (Bild: Mateusz Morawiecki via Twitter/dpa)

WOCHENBLATT
WOCHENBLATT

Die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien sind im Zug in die Ukraine gereist. Der Besuch wurde unter strengster Geheimhaltung vorbereitet. Kanzler Scholz begrüßt den Plan.

Warschau (dpa) – Die Reise ist riskant, das Verkehrsmittel ungewöhnlich. Mit dem Zug sind die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien am Dienstag nach Kiew gereist, um sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu treffen.

Sie wollen so ihre Unterstützung für den Freiheitskampf der Ukraine signalisieren und ein Paket mit konkreter Hilfe für das von Russland angegriffene Land vorlegen.

Am Abend meldet Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die Ankunft. «Hier, im kriegszerstörten Kiew, wird Geschichte geschrieben», schreibt er auf Twitter. Und postet Bilder, die ihn mit seinem Stellvertreter Jaroslaw Kaczynski sowie Tschechiens Ministerpräsidenten Petr Fiala und seinem slowenischen Kollegen Janez Jansa an einem Tisch mit einer Karte der Ukraine zeigten. Wo genau sie entstanden sind, ist unklar.

Kiew ist seit Kriegsbeginn immer wieder von russischen Raketen getroffen worden. Bürgermeister Vitali Klitschko hat gerade nach weiteren schweren Angriffen eine Ausgangssperre von Dienstagabend bis Donnerstagfrüh verhängt. Viele Bewohner der Stadt harren in Bunkern und Schutzräumen aus.

Ein Flug in die umkämpfte ukrainische Hauptstadt ist unter diesen Bedingungen undenkbar. Auch sonst bietet sie sich als Reiseziel für Politprominenz derzeit nicht an. Und so kommt es überraschend, als Polens Regierungssprecher Piotr Müller am Dienstagmorgen verkündet, dass ein Zug mit Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, seinem Stellvertreter Jaroslaw Kaczynski sowie Tschechiens Regierungschef Petr Fiala und seinem slowenischen Amtskollegen Janez Jansa Richtung Kiew unterwegs ist und bereits die polnisch-ukrainischen Grenze überquert hat.

«Strengste Geheimhaltung»

Die Reise sei «unter strengster Geheimhaltung» geplant worden, heißt es in Warschau. Auch die Reiseroute bleibt zunächst streng geheim. Ein Gleis mit russischer Breitspur, wie sie auch in der Ukraine verlegt ist, gibt es jedoch nur im Bahnhof der ostpolnischen Stadt Przemysl. Das lässt vermuten, dass die Reise dort begonnen hat. Aus der Gegenrichtung kommen in Przemysl derzeit ständig überfüllte Züge an. Sie bringen Tausende von verzweifelten Menschen, die aus der Ukraine fliehen.

Später twittert Morawieckis Kanzleichef, der Zug habe die westukrainische Stadt Lwiw passiert. Auch Lwiw war erst am Sonntag Ziel von russischen Raketenangriffen. Ebenso die ukrainische Militärbasis Jaworiw – ganz in der Nähe der Grenze zu Polen.

«Delegation vertritt die Europäische Union»

Die Visite sei eng mit EU-Ratspräsident Charles Michel und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen abgestimmt, sagt Polens Regierungssprecher: «Die Delegation vertritt de facto die Europäische Union, den Europäischen Rat». Aus EU-Kreisen heißt es dagegen, es gebe kein offizielles Mandat des Europäischen Rates, da formell kein Beschluss der 27 EU-Länder gefasst worden sei. Nach Angaben des Sprechers von Michel wurden von der Leyen und Michel selbst am Rande eines EU-Gipfels Ende vergangener Woche über ein mögliches Treffen informiert.

In Warschau nutzt der Regierungssprecher die Frage, warum die EU-Spitze nicht selbst nach Kiew fahre, zu einem Seitenhieb gegen die Brüsseler Bürokraten. «Dies ist eine schwierige Frage, aber es ist eine Frage der individuellen Entscheidungen jedes europäischen Spitzenpolitikers.» Haben von der Leyen und Michel nicht genug Mumm in den Knochen für den Höllentrip nach Kiew? Ein EU-Beamter räumt später ein, der EU-Ratspräsident habe mit Blick auf eine solche Reise auf Sicherheitsrisiken hingewiesen. Die Frage danach, warum von der Leyen nicht mit im Zug sitze, nennt er nur «kurios».

Kanzler Scholz: «Alle Gesprächsformate nutzen»

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich positiv zur Reise der Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien nach Kiew geäußert. Es gehe derzeit darum, «alle Gesprächsformate zu nutzen und die auch aufrecht zu erhalten», sagte der SPD-Politiker in Berlin. Es sei «gut, wenn auf verschiedene Weise versucht wird, in dieser Situation hilfreich zu sein».

Die Weltgemeinschaft verfolge eine klare politische Strategie, um der Ukraine zu helfen, sagte Scholz. Es sei richtig, immer wieder mit Präsident Selenskyj zu sprechen – aber «selbstverständlich» auch mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, um auf einen Waffenstillstand zu drängen. «Da sind wir alle aktiv auf unterschiedliche Weise, und das ist auch gut so», sagte Scholz.

Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) würdigte die Reise nach Kiew als mutigen Schritt. Die Union sehe mit allergrößtem Respekt, was die drei Politiker auch an persönlichem Risiko auf sich nähmen, «um die Solidarität nicht nur der drei Länder, sondern auch der gesamten Europäischen Union noch einmal zu unterstreichen», sagte Merz vor einer Sitzung der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU in Berlin. Auf die Frage, ob er sich einen solchen Schritt auch von Kanzler Scholz erwarte, sagte Merz, eine solche Reise «könnte durchaus ein Vorbild sein auch für andere».

«Gefährliche» Reise

In Polen weckt die Visite Erinnerungen an eine Initiative des 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Präsidenten Lech Kaczynski. Im Georgien-Krieg 2008 reiste Kaczynski zusammen mit den Präsidenten Litauens, Estlands und der Ukraine sowie mit dem lettischen Regierungschef nach Tiflis, um dem Land in der Auseinandersetzung mit Russland Solidarität zu zeigen.

«Die Reise von Morawiecki und seinen Amtskollegen nach Kiew ist aber wesentlich gefährlicher als Kaczynskis Visite damals», sagt Jerzy Haszczynski, Außenpolitik-Experte der polnischen Zeitung «Rzeczpospolita». Der Journalist war gerade selbst zehn Tage im umkämpften Kiew. Tiflis habe 2008 nicht unter Raketenbeschuss gestanden. «Niemand hat dort im Bunker gesessen.» Das sei jetzt in Kiew anders.