Auto rast in Menschenmenge 29-Jähriger kommt nach Todesfahrt von Berlin in Psychiatrie

Blumen liegen vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wo ein Autofahrer am Mittwoch, 08.06.2022 in eine Menschenmenge gefahren war.
Blumen liegen vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wo ein Autofahrer am Mittwoch, 08.06.2022 in eine Menschenmenge gefahren war. (Bild: picture alliance/dpa | Christoph Soeder)

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Eine Frau ist tot, viele Menschen verletzt: Nach dem tödlichen Vorfall in Berlin gehen die Ermittler von einer psychische Erkrankung des Autofahrers aus. Aber wie geht es nun weiter?

Berlin/Bad Arolsen (dpa) – Schock und Trauer wirken nach der Todesfahrt an der Berliner Gedächtniskirche noch immer nach. Derweil geht die Arbeit der Ermittler weiter. Für sie geht es nun darum, die genauen Umstände und Hintergründe der Tat aufzuklären. Hierzu sollen Sachverständige – sowohl für die psychiatrische Expertise als auch für den Hergang des Geschehens – beauftragt und Zeugen vernommen werden.

Kein Zweifel an psychischer Erkrankung

Eines ist für die Beamten sicher: Eine psychische Erkrankung des Autofahrers hat dazu geführt, dass der 29-Jährige am Mittwoch über Gehwege des Ku’damms und der Tauentzienstraße in Menschengruppen gerast ist. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord in einem Fall und versuchten Mord in 17 Fällen vor.

Besonders getroffen von der Tat ist eine Schulklasse aus dem nordhessischen Bad Arolsen, deren Fahrt in die Hauptstadt ein jähes Ende fand. Eine Lehrerin der Schule starb bei dem Vorfall, viele Schüler wurden verletzt.

Am Mittwochabend legten der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) Blumen für die Opfer nieder. «Ich empfinde ganz tiefe Trauer, wenn ich diesen Ort sehe, und mein Herz ist wirklich schwer, seitdem ich die Nachrichten erfahren habe», sagte Rhein. Ein Mensch habe «eine ganze Schule, einen ganzen Ort und vor allem eine ganze Familie» in eine Tragödie gestürzt.

Erzbischof ruft zur Schweigeminute auf

Ermittlungen müssten nun zeigen, ob hinter der Tat möglicherweise noch mehr stehe als die psychische Erkrankung des Fahrers, sagte Giffey. «Für uns war wichtig, dass wir hier gerade an diesem Ort wirklich aus den Lehren der Amoktat und dieses Anschlages aus 2016 gelernt haben.» Vieles sei seither anders organisiert worden, der Plan sei am Mittwoch «in vorbildlicher Weise» umgesetzt worden.

Der katholische Berliner Erzbischof Heiner Koch rief alle Schulen auf, am Freitag (10.30 Uhr) eine Schweigeminute zu halten. «Besonders erschreckt und erschüttert hat mich, dass eine Schulklasse Opfer der Amokfahrt wurde», sagte Koch laut Mitteilung vom Donnerstag.

Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass der festgenommene Mann an einer paranoiden Schizophrenie leide, sagte am Donnerstag der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Sebastian Büchner. Bei der Durchsuchung der Wohnung des 29-Jährigen seien Medikamente gefunden worden. Der Beschuldigte habe seine Ärzte von der Schweigepflicht entbunden.

Kein terroristischer Hintergrund

Für einen terroristischen Hintergrund der aktuellen Tat gibt es derweil weiterhin keine Hinweise – auch ein Unfall lässt sich laut Staatsanwaltschaft derzeit ausschließen.

Von der Bundes- und Landesregierung wurde der Vorfall als Amoktat eingestuft. Staatsanwaltschaft und Polizei nutzten den Begriff «Amoktat» hingegen zunächst bewusst nicht. Der Fall weckt auch Erinnerung an eine Amokfahrt auf der Berliner Stadtautobahn A100 im August 2020, als ein Autofahrer gezielt drei Motorradfahrer rammte. Er wurde vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen.

Der 29-jährige Tatverdächtige armenischer Herkunft sei 2015 eingebürgert worden, führte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) am Donnerstag aus. Polizeilich sei er öfter aufgefallen, es habe Ermittlungen gegeben wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs und Beleidigung.

Der Tatort befindet sich unweit der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz in Berlin-Charlottenburg. Dort war im Dezember 2016 ein islamistischer Attentäter in einen Weihnachtsmarkt gefahren.

Mehrfach psychologisch auffällig

Vor der Todesfahrt vom Ku’damm in Berlin ist der beschuldigte 29-Jährige mehrfach psychologisch auffällig gewesen. Der sozialpsychiatrische Dienst des Bezirkes Charlottenburg-Wilmersdorf habe seit 2014 mehrfach eingreifen müssen, sagte der Bezirksstadtrat für Jugend und Gesundheit, Detlef Wagner (CDU). Das letzte Mal sei dies Anfang 2020 der Fall gewesen. Zuvor hatte der RBB berichtet. Eine konkrete Anzahl der Einsätze nannte Wagner mit Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht nicht.

Nach RBB-Informationen ist der Deutsch-Armenier 2020 an eine psychiatrische Klinik überstellt worden, wo eine Einweisung geprüft werden sollte. Was dann geschah, ist nicht bekannt. «Wir sind immer die Erstintervenierenden», erklärte Wagner.

Die Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen würden etwa von der Polizei um Hilfe gebeten, wenn Beamte bei einem Einsatz den Eindruck hätten, beim Täter lägen psychologische Probleme vor. Das Team gebe dann eine Einschätzung ab, ob der Betroffene beispielsweise in einer psychiatrischen Klinik vorgestellt werden solle. «Danach sind wir raus», so Wagner. Der sozialpsychiatrische Dienst sei nicht eingebunden in den Fortgang des Falles. Darum existierten keine weiteren Akteneinträge.

Dies sei auch im Fall des 29-Jährigen so, erklärte der Bezirksstadtrat. Nach Anfang 2020 gebe es keine weiteren Eintragungen. «Der Mann ist – jedenfalls laut unseren Akten – nicht mehr mit psychischen Problemen in Erscheinung getreten», so Wagner.

Bezirk: Weniger Verkehr an Gedächtniskirche

Der Bezirk will nun Pläne für reduzierten Autoverkehr an der Gedächtniskirche so schnell wie möglich umsetzen. Auf beiden Seiten des Breitscheidplatzes sollten Autospuren entfernt oder umgelenkt werden, um eine direkte und gerade Fahrt Richtung Breitscheidplatz zu verhindern, sagte die Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg-Wilmersdorf, Kirstin Bauch (Grüne). Dafür gebe es seit Jahren Konzepte, die aber von der Senatsverkehrsverwaltung und dem Senat bisher nicht beschlossen worden seien, so dass die Umsetzung bisher gescheitert sei.

Verkehrsstadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne) sagte: «Wir müssen die hohe Gefährdung des Breitscheidplatzes über die Verkehrslenkung in den Griff bekommen.» Die derzeitigen schweren Absperrungen aus großen Betonklötzen zum Schutz des Platzes könnten dann wieder entfernt werden.

Bauch und Schruoffeneger sagten, natürlich lasse sich nicht die ganze Stadt schützen. Aufgabe der Politik sei es aber, auf den großen öffentlichen Plätzen für Sicherheit zu sorgen. Der Durchgangsverkehr müsse dann weiträumiger um den Innenstadtbereich umgeleitet werden, hieß es. Diskussionen über die grundsätzliche Sperrung der Tauentzienstraße für Autos sollten aber nicht jetzt geführt werden. Zunächst gehe es um das bereits vorhandene Sicherheitskonzept.